Terrortruppe NSU: Von der Vergangenheit eingeholt
Ausgestiegen aus der Naziszene, umgezogen, studiert und offen schwul: Carsten S. wollte nichts mehr mit den Rechten zu tun haben.
Seit Jahren schien sein altes Leben vergessen zu sein. Die braune Vergangenheit in Thüringen lag lange zurück, in Nordrhein-Westfalen hatte Carsten S. sich eine völlig neue Existenz aufgebaut, als Aussteiger aus der Neonaziszene, bekennender Schwuler und angesehener Sozialpädagoge in der HIV-Prävention.
Doch nun hat Carsten S. seine braune Vergangenheit wieder eingeholt. Die Spezialeinheit GSG9 verhaftete ihn am Mittwoch um 6 Uhr morgens in seiner Wohnung in Düsseldorf-Oberbilk, anschließend flog ihn ein Hubschrauber nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof, wo der Richter die Untersuchungshaft anordnete.
Der Vorwurf der Ermittler: Der heute 31-Jährige soll vor rund zehn Jahren eine Waffe samt Munition gekauft haben, die über Umwege den Weg zu den rechtsextremen Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) fand.
Sein zweites Leben startete Carsten S. mit seinem Umzug 2003. Für ihn war es mehr als ein Ortswechsel. Im Rheinland konnte er das sein, was unter seinen männerbündischen wie homophoben Kameraden in der ostdeutschen Neonaziszene unmöglich gewesen wäre: ein offen schwul lebender junger Mann. Im August 2003 zog er zunächst in das in der Nähe von Köln gelegene Hürth, wenige Monate später nach Düsseldorf.
An der dortigen Fachhochschule begann er ein Studium der Sozialpädagogik. Und er engagierte sich im Autonomen Schwulenreferat. Auf einer Schwulen-Vollversammlung wurde Carsten S. im Sommer 2004 sogar als Asta-Referent vorgeschlagen. Seine Vergangenheit glaubte er, hinter sich gelassen zu haben.
Doch dann holte sie ihn erstmalig wieder ein. Denn die Düsseldorfer Antifa hatte von seinen früheren Aktivitäten im Kameradschaftsbund "Thüringer Heimatschutz" und in der Jugendorganisation der NPD erfahren; jetzt alarmierte sie den linken Asta. Der blockierte die Bestätigung als Schwulenreferent. Carsten S., der sich bis dahin nur wenigen Bekannten anvertraut hatte, sah sich gezwungen, seine Kandidatur zurückzuziehen.
Kompensation der eigenen Schuld
Es sei nicht darum gegangen, ihm "die Möglichkeit zu nehmen, sich ein neues Leben aufzubauen, sondern darum, ihm aufgrund seines mit vielen offenen Fragen und Zweifeln einhergehenden Ausstiegs einen Zugang zu Strukturen der Verfassten Studierendenschaft zu verweigern", erklärt die heutige Asta-Vorsitzende Ann Lemke. So konnte Carsten S. denn auch weiter ehrenamtlich im Schwulenreferat mitarbeiten. Sein soziales Engagement sei für ihn auch eine Kompensation für die eigene Schuld gewesen, sagen Bekannte.
Als Diplom-Sozialpädagoge bekam Carsten S. 2005 einen Job bei der Aids-Hilfe Düsseldorf und arbeitete später zudem für das schwul-lesbische Jugendzentrum PULS. Als "netten, zuverlässigen Mitarbeiter" beschreibt ihn Peter von der Forst. "Er war im Kollegenkreis anerkannt", sagt der Aids-Hilfe-Geschäftsführer. "Wir haben keinen Grund gesehen, weder ideologisch noch menschlich, ihm in irgendeiner Form zu misstrauen."
Carsten S. habe sein braunes Vorleben nicht verschwiegen, sondern sich vielmehr glaubhaft von der rechten Szene distanziert, betont von der Forst. "Sonst hätten wir ihn selbstverständlich nicht eingestellt." Allerdings, so räumt er ein: "Da war nicht die Rede von irgendwelchen Terrorgruppen."
Einer der wichtigsten Kontaktmänner
Wie viel Carsten S. vom Treiben des Neonazitrios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Untergrund wusste, das werden die weiteren Ermittlungen zeigen. Im Jahr 1999 soll er einer der wichtigsten Kontaktmänner des untergetauchten Neonazitrios gewesen sein. So steht es in geheimen Akten der Verfassungsschützer. Demnach hielt er eine Zeit lang als Einziger Telefonkontakt mit dem Trio.
Umstritten ist derzeit noch, wann Carsten S. mit der Neonazi-Szene gebrochen hat. Er selbst ließ über seinen Anwalt mitteilen, er sei "im Jahre 2000 aus der rechten Szene ausgestiegen". Seitdem habe er sich "davon distanziert und verabscheue jegliche Art von rechtem, rassistischem und extremistischem Gedankengut". Die Bundesanwaltschaft geht aber davon aus, dass er noch länger zumindest Kontakte zu rechtsradikalen Kreisen gehabt hat. Die Waffe für die Neonazis im Untergrund soll er 2001 oder 2002 gekauft haben.
Nichts spricht aber dafür, dass Carsten S. sein neues Leben in Nordrhein-Westfalen nur vorgetäuscht hat. Selbst der gewöhnlich gut informierten Antifa in Düsseldorf liegen "keinerlei Hinweise" vor, dass er "in seiner Düsseldorfer Zeit Kontakte in die Neonazi-Szene hatte oder noch mit dieser sympathisierte". Er habe "allein schon durch sein soziales Engagement und durch seine berufliche Tätigkeit in den letzten Jahren deutlich gemacht hat, dass er mit der neonazistischen Szene gebrochen hat", meint der Düsseldorfer Ratsherr Frank Laubenburg.
Der Linksparteiler berichtet darüber hinaus, dass Carsten S. in der Vergangenheit wiederholt im engeren Bekanntenkreis behauptet haben soll, nach dem Jahr 2000 in einem "Aussteigerprogramm" gewesen zu sein. Doch verifizieren lässt sich das bisher nicht. Der Anwalt des 31-Jährigen wollte sich am Donnerstag nicht äußern.
Vor dem Ermittlungsrichter soll Carsten S. ausführlich über seine dunkle Vergangenheit ausgesagt haben. Er hat jetzt die Chance, reinen Tisch zu machen - und eine der brutalsten Mordserien der vergangenen Jahrzehnte mit aufzuklären.
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