Tempolimit auf der Autobahn : Nicht aus Klimaschutzgründen
So bekommt man eine breite Mehrheit für Tempo 100 auf der Autobahn. Martin Unfried über das niederländische Beispiel.
Von Martin Unfried
Irgendwann bekam ich von meiner taz-Genossenschaft einen Autoaufkleber zugesandt. Aufschrift: »120 – weil ich es kann.« Die Aktion sollte den Gedanken etablieren, dass wir kein offizielles Tempolimit bräuchten, um individuell langsamer zu fahren.
Die Idee war gut gemeint, zeigte allerdings auch, wie merkwürdig anspruchslos selbst »Umweltbewegte« in Deutschland diese Sache angehen. Für mich kam 120 km/h auf der Autobahn aus zwei Gründen nicht infrage. Erstens, weil 120 zu schnell ist. Ich fahre seit Jahren auch in Deutschland wesentlich langsamer als 120 km/h. Nicht mehr, um Sprit zu sparen, die Zeiten sind vorbei, aber weil die Energieeffizienz auch in unserem Elektroauto bei 100 km/h erheblich besser ist.
Zweitens lebe ich in den Niederlanden und da gilt seit März 2020 auf der Autobahn Tempo 100 (davor waren es stramme 130). Ein deutscher 120er-Aufkleber »Weil ich es kann« würde als Provokation eines typisch deutschen Rasers interpretiert. Merke: Tempo 100 ist in den Niederlanden Realität und in Deutschland noch außerhalb der Vorstellungskraft vieler.
Die Klimakrise hat eben nicht dazu geführt, dass Klimaschutz, weniger Verkehrstote, Kostenersparnis und Lärmschutz Vorrang haben vor individuellen Rennfahrerambitionen und einer möglichen Zeitersparnis. Erstaunlicherweise gilt dies auch weiter trotz der durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verursachten Kollateralkrisen und der daraus resultierenden Notwendigkeit sofortiger radikaler Einspar- und Effizienzgewinne. Energiesparen könnte heute – um es martialisch auszudrücken – nicht nur klima-, sondern sogar kriegsentscheidend sein. Umso erschreckender ist es, dass nicht ernsthaft diskutiert wird, ob und wie das niederländische Modell auf Deutschland übertragbar ist.
Der Ukraine-Krieg könnte in Deutschland zur Akzeptanz eines Tempolimits führen
Kommen wir erst zur wesentlichen politischen Frage: der gesellschaftlichen Akzeptanz. Es gab und gibt in den Niederlanden seit der Einführung keinen wesentlichen Widerstand gegen Tempo 100. Auch Verkehrspsychologen bestätigen das und vermuten, dass die Maßnahme wegen der positiven Effekte bleiben wird. Auf den vollen niederländischen Autobahnen fährt es sich heute noch entspannter, da alle ungefähr gleich schnell fahren. Für aussagekräftige Studien in Sachen Unfallzahlen und Umwelteffekte ist es wegen der Corona-Pandemie zwar noch zu früh, aber die Praxis des ruhigen Fahrens beruhigt anscheinend tatsächlich die Gemüter. Zwischen 19 und 6 Uhr morgens darf man übrigens schon mal 120 oder 130 km/h fahren. Auch das ist psychologisch ein wichtiger Kniff.
Für die schnelle und breite Akzeptanz gibt es aber vor allem einen wichtigen Grund, der auch in Deutschland entscheidend sein könnte. Die rechtsliberale Regierung von Mark Rutte hatte vor der Einführung sehr deutlich kommuniziert, dass Tempo 100 nicht aus Klimaschutzgründen gemacht werde! Sondern zur Rettung wichtiger Bau- und Infrastrukturprojekte. Diese waren aufgrund viel zu hoher Stickstoffemissionen in Naturgebieten gefährdet, also wegen nachlässiger Umweltpolitik. Das höchste niederländische Gericht hatte deshalb tausende Baugenehmigungen gestoppt. So erklärte die Regierung Tempo 100 zur Rettung der Bauindustrie. Das hat sehr gut funktioniert, weil es den herkömmlichen »Raser gegen Ökos«-Rahmen sprengte.
Hier wird es interessant: Der Ukraine-Krieg Russlands wäre in Deutschland auch ein »neues« Motiv, das eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz von Tempo 100 auslösen könnte. Wer würde sich in dieser Zeit vehement gegen das energische Einsparen von russischem Öl aussprechen? In den Niederlanden musste durch das neue Motiv plötzlich nicht mehr mit CO2-Einsparung, weniger Verkehrstoten, et cetera argumentiert werden. Es ging um den Stickstoffeffekt und es war sogar klar, dass diesen Effekt nur die 100 km/h haben würden.
Darum wäre im Moment in Deutschland eine Weichspülvariante von 120 oder 130 km/h im Blick auf gesellschaftliche Akzeptanz nicht unbedingt hilfreicher. Insbesondere, weil Tempo 100 die Leute viel stärker und sehr spürbar an der Tankstelle entlasten würde.
Tempo 100 spart Geld und Energie
In erster Linie handelt es sich nämlich bei Tempo 100 um ein gigantisches Geldsparprogramm für Privathaushalte. Zahlen des Umweltbundesamtes zeigen, dass die Einspareffekte wesentlich größer sind als bei 120 oder 130 km/h. Ein Auto mit Verbrennungsmotor verbraucht nach Angabe der TU Delft bei 100 km/h im Durchschnitt 25 Prozent weniger Sprit als bei 130 km/h. Verknüpft mit Tempo 80 auf Bundes- und Landstraßen und Tempo 30 in Innenstädten, könnte man damit echte finanzielle Einsparungen realisieren.
Weniger Öl von Putin und weniger eigenes Geld zum Fenster rausgeschmissen: Das könnte mehr Leute überzeugen als Klimaschutz und Verkehrssicherheit, vor allem weil man damit ja nun jahrelang nicht weitergekommen ist. Zudem hätte Tempo 100 in diesem Fall einen nicht zu unterschätzenden emotionalen Wert, da es eine kurzfristige, kollektive und solidarische Maßnahme für die Ukraine und gegen Russland wäre. Anscheinend hat der kollektive Gedanke des Beitrags zur Rettung der Bauindustrie in den Niederlanden sehr geholfen.
Längerfristig ist Tempo 100 eine wesentliche Bedingung der nötigen Effizienzrevolution im Fahrzeugbau – gerade für künftige Elektroautos. Diese gelingt nur mit leichteren und kleineren Fahrzeugen und damit weniger Ressourcenaufwand. Ein anderes Fahrzeugdesign ist aber nicht möglich, wenn jeder Kleinwagen auf 180 km/h ausgelegt ist. Genauso wenig passen die heutigen deutschen Geschwindigkeiten zum autonomen Fahren. Auch hier sind niedrigere und konstantere Geschwindigkeiten systemrelevant. Für die Vermeidung von Verkehrstoten sowieso.
Tempo 80 ist übrigens jenseits der Autobahnen in den Niederlanden schon lange etabliert. Ich habe nie gehört, dass hier jemand schneller fahren möchte. Es ist bedauerlich, dass die deutsche Regierung zu Beginn des Krieges den Moment des allgemeinen Schocks hat verstreichen lassen. Vielleicht wäre aber jetzt auch dieser Herbst ein guter Moment, wenn es energiepolitisch in Richtung »Kriegswinter« geht.
Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.