Telefonverkehr soll überwacht werden: Orwell in Schweden
Das Stockholmer Parlament will dem Geheimdienst erlauben, sämtliche Telefonate, SMS und E-Mails zu überwachen. Gerechtfertigt wird das durch die "Gefahr von aussen".
STOCKHOLM taz Am Mittwoch soll das Parlament in Stockholm ein Gesetz verabschieden, das Schweden nach Meinung von KritikerInnen zu einem „Orwellschen Überwachungsstaat" machen würde. Dann bekommt nämlich ein militärischer Geheimdienst, die „Försvarets Radioanstalt" (FRA), die schon jetzt allen Funkverkehr abhört, den Regierungsauftrag alle kabelgebundene Kommunikation zu überwachen. Also mitzuhören, was am Telefon oder Handy gesagt wird, alle E-Mails, SMS und überhaupt jeden Verkehr über das Web zu überwachen, zu speichern und zu analysieren. Wohlgemerkt nicht nur die Verbindungsdaten , welche die Provider schon jetzt ein Jahr speichern müssen, sondern auch die Inhalte.
Es bedarf dazu keines richterlichen Beschlusses, es gibt keine nachträgliche gerichtliche Kontrolle, irgendwelche Verdachtsmomente für eine mögliche Straftat sind nicht erforderlich: Jeder ist erst einmal grundsätzlich verdächtig. „Der Vorschlag stellt einen Eingriff in die persönliche Integrität dar, welche bislang international beispiellos ist", konstatierte sogar das Justizministerium in einer Stellungsnahme zu dem Gesetzesvorhaben.
Selbst die Oberste Polizeibehörde („Rikspolisstyrelsen") lehnt derart weitgehende Überwachungsbefugnisse ab und spricht von „einem Aufsehen erregenden Mangel an Rücksichtnahme auf den Schutz der Integrität, wie sie durch unsere Staatsform und die Europakonvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert werden". Und auch der Verfassungsschutz SÄPO scheint in diesem Fall ein besserer Verfassungsschützer als die Parlamentsmehrheit zu sein und kritisiert „eine massive Telefonüberwachung" und „eine Kränkung der Integrität", die alle bisherigen derartigen Massnahmen und Vorschläge „weit übertrifft".
Das Überwachungsgesetz war vor einem Jahr von der links-grünen Opposition bereits einmal im Gesetzgebungsprozess blockiert worden. Nun hat es die konservativ-liberale Regierung in nahezu unveränderter Form erneut vorgelegt und es genügt eine einfache Mehrheit im Parlament – über welche die Koalition verfügt. Das Gesetz wird als blosse „Anpassung" der Befugnisse der militärischen Lauscher der FRA an die technische Entwicklung verteidigt. Dieses schwedische Äquivalent zur National Security Agency (NSA) in den USA überwacht seit Jahrzehnten den grenzüberschreitenden Funkverkehr. Da heute aber 98 Prozent der Kommunikation über Kabel verlaufe, müsse sie auch diese Befugnis erhalten, um „Gefahr von aussen" rechtzeitig erkennen zu können. Dass die FRA formal nur beim grenzüberschreitenden Verkehr mitlauschen und –lesen darf bedeutet aber in IT-Zeiten nicht viel.
Selbst wenn Absender und Empfänger von E-mails in Schweden sitzen, handelt es sich meist um internationalen Verkehr. Viele der E-Postserver stehen im Ausland oder der Internetverkehr wird über ausländische IT-Knoten abgewickelt. Eine Mail zwischen Göteborg und Stockholm geht normalerweise um den halben Globus. Sogar der eigene IT-Experte der Regierung, Patrik Fältström, konstatiert, eine Unterscheidung zwischen innerschwedischem und grenzüberschreitendem IT-Verkehr „ist meiner Meinung nach in der Praxis unmöglich".
Von JournalistInnen, die um den Schutz ihrer Quellen fürchten, bis zu RechtsanwältInnen, die meinen, die Gespräche mit ihren KlientInnen könnten dann nicht mehr vertraulich sein – alle Proteste haben bislang nichts genutzt.
Am Wochenende kam nun den KritikerInnen in womöglich letzter Minute ein Skandal zu Hilfe. Offenbar ein Insider hat der Datenschutzbehörde gesteckt, dass die FRA schon in der Vergangenheit ihre eigentlichen Befugnisse weit überschritten hat: So hat sie seit den neunziger Jahren Informationen über mehr als 100 Personen – u.a. Geschäftsleute - mit Kontakten nach Russland gesammelt, obwohl es keinerlei Anhaltspunkt für eine mögliche terroristische oder militärische Gefährdung gab. Nun sprechen einige Koalitionsabgeordnete von „Bauchschmerzen" und „wachsenden Bedenken". Stimmen nur vier gegen die Regierungslinie könnten sie das Gesetz kippen.
Kommt das „Orwell-Gesetz" trotz allen Widerstands durch, bleibt wohl nur der Weg zum europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Ein Verfassungsgericht kennt Schweden nicht.
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