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Archiv-Artikel

Techniktraum und Trauma

Im Kraftwerk der „ehemaligen Versuchsstelle des Heeres“ in Peenemünde auf Usedom werden Nazi-Vergangenheit und Technikwahn in einem gelungenen Museumskonzept dargestellt

PEENEMÜNDE & CO

Das Kraftwerk Peenemünde ist mit der Usedomer Bäderbahn zu erreichen. Mehr unter: www.peenemuende.de Auch die Riesenferienanlage Prora auf Rügen ist ein schwieriges Erbe aus der Nazizeit. 1936 legte die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ hier den Grundstein zur größten Ferienanlage der Welt mit 20.000 Betten auf viereinhalb Kilometer Strand. Die neusten Pläne sehen – neben einem Museum – ein Drei-Sterne-Resort mit Wellness und Shopping vor. www.proradok.de, www.usedom.de Auf Hitlers Alpenfestung „Adlerhorst“ auf dem Obersalzberg wurde 2005 das Fünf-Sterne-Hotel Interconti Resort Berchtesgaden eröffnet. Die 1999 eröffnete Dokumentation Obersalzberg arbeitet die Geschichte des Obersalzbergs mit dem Schwerpunkt auf der NS-Zeit und die Auswirkungen der NS-Politik auf Deutschland und die Welt auf. www.obersalzberg.de, www.intercontinental-berchtesgaden.com Buchtipp: Stephan Porombka, Hilmar Schmundt (Hrsg.): „Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute“. Claassen, Berlin 2005 Information über NS-Konzentrationslager und Gedenkstätten in Deutschland unter: www.ns-gedenkstaetten.de

VON CHRISTEL BURGHOFF UND EDITH KRESTA

Keine fünf Minuten braucht die Rakete bis nach London. Man wird nichts von ihr hören. „Die erste Nachricht, die man erhält, ist die Explosion. Danach – wenn’s einen dann noch gibt –, danach erst hört man das Geräusch ankommen.“ Ein Horror, den der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon in seinem 1.200-Seiten-Wälzer „Die Enden der Parabel“ thematisiert hat. Es war die erste Waffe, die schneller als der Schall flog. Die Rakete, gut bekannt als V2 („Vergeltungswaffe“) oder Aggregat 4, galt als Hitlers Wunderwaffe, die den „Endsieg“ herbeibomben sollte. In London, in Paris, in belgischen Städten. Heute steht der Prototyp der Rakete harmlos auf dem Gelände, wo sie seinerzeit entwickelt wurde: auf dem Raketenentwicklungs- und versuchsgelände der Nazis in Peenemünde auf Usedom.

Eine Rekonstruktion: 14 Meter hoch, schlank, formschön, original in Schwarz-Weiß – ein Modell, das beeindruckt. Man glaubt, sie längst zu kennen, immer schon gekannt zu haben. Sie verkörpert den Prototyp, der sich Jahrzehnte später in zahlreichen Varianten der amerikanischen Raumfahrtprogramme auf den Fernsehschirmen bewundern ließ. Aufgemalt wurde selbst ihr „Frau im Mond“-Emblem, ein Pin-up, nackt bis auf die schwarzen Nylons, ganz im Geschmack der damaligen Zeit. Ein Hinweis auf die erotischen Neigungen ihrer Erbauer. Aber die Rakete war eingebunden in ein mörderisches Konzept. Nicht nur ihr Einsatz forderte mehrere tausend Menschenleben. Auch ihre Herstellung selbst beruhte auf menschlichen Opfern: 20.000 von den 60.000 für die Produktion eingesetzten KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern kamen wegen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen ums Leben. Peenemünde war das weltweit erste Hightech-Zentrum neuen Stils. Es war der modernste, durchrationalisierteste Rüstungsbetrieb. Vergleichbare Großforschungszentren des Raketenbaus entstanden in den USA und der UdSSR ein bis anderthalb Jahrzehnte später. In Peenemünde arbeiteten zeitweise bis zu 15.000 Menschen. Als die Alliierten das Gelände 1943 bombardierten, wurde die Produktion der Mordwaffe in unterirdische Stollen im Harz verlegt.

Mit diesem historischen Kapitel angemessen umzugehen, hat sich das Museumskonzept auf dem Gelände der Produktionsstätte in Peenemünde zur Aufgabe gemacht. Eines der letzten erhaltenen Bauwerke dort, ehemals Europas modernstes Kraftwerk, beherbergt heute eine gelungene Dauerausstellung mit dem Themenschwerpunkt „Ethik und Technik“. Auf rund 5.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche und bei Raumhöhen von 4 bis 25 Metern wird sowohl die Geschichte der Raumfahrt als auch ihre mörderische Entstehungsgeschichte thematisiert. Peenemünde ist Gedenkstätte und ein Technikmuseum. Und es ist mehr als das. Es stellt nicht nur aus, sondern es zeigt auch die mörderische Verstrickung von Technikentwicklung und militärischen Konzepten.

Das riesige Gelände und die Architektur des Kraftwerks zeugen von einem wahr gewordenen Technikertraum, von grenzenloser Machbarkeit. Die darin befindlichen Ausstellungsräume sind eine Kombination von noch vorhandener Technik vor Ort und der historischen Aufarbeitung: Technische Innovationen wie auch das menschliche Leid werden gezeigt. Mittels Audioguide kann man mehr über die Einzelschicksale von Überlebenden erfahren. Es werden Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Gelände genauso geschildert wie Details des technischen Ablaufs. Das Museumskonzept schiebt den Begehrlichkeiten der rechten Szene und allen Bedürfnissen nach Mystifizierung der Rakete einen Riegel vor.

Das Gelände rund um die Produktionsstätte, Sperrgebiet von 1936 bis 1989, ist voll von Ruinen der militärischen Vergangenheit. Die unterirdischen Bunkeranlagen und Raketenabschussrampen sind beinahe verfallen. Aber Gras und Bäume überdecken nur knapp die Vergangenheit. Auch ungeübten Augen fallen die Verwerfungen in der Landschaft auf. Manchmal ragen Betonreste heraus. Beton unter Wiesen; Schotter, Mauerreste, Gräben, Wälle im Wald. Erstaunliche Biotope. Das Gelände rund um die Produktionsstätte kann im Rahmen des Museumskonzepts seit 2007 auf ausgewählten Rundwegen für Wanderer und Radfahrer besichtigt werden.