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Tarifvertrag

■ betr.: "Ab 1995 gilt die 35-Stunden-Woche", taz vom 12.5.90

Betr.: „Ab 1995 gilt die 35-Stunden-Woche“, taz vom 12.5.90

Die Metallarbeitertarifverhandlungen haben überall, in Göttingen wie in Berlin, zu „befriedigenden“ Abschlüssen geführt. Sechs Prozent Lohnerhöhung und die 35-Stunden-Woche ab 1995. Da fällt auch den taz-Redakteuren dazu nichts anderes ein, als daß dies ein „akzeptabler Kompromiß“ sei. Und daß in einer Zeitung, die mal gegründet wurde, um für gesellschaftlich Benachteiligte zu einem Sprachrohr zu werden, um die drei Viertel unseres Volkes, die abhängige Arbeitnehmer sind, in ihrem Kampf um gerechte Beteiligung am Arbeitsplatz zu unterstützen.

Da wollen wir als Gewerkschaftsmitglieder die Lohnerhöhung gern als angemessen hinnehmen. Wie weit sie den Riesengewinnen der Unternehmer entspricht, das kann nur ein Fachmann beurteilen. Und das sollten unsere Gewerkschaftsführer sein. Aber die zwei Millionen Arbeitslosen können da nur verständnislos zusehen. Welcher Lohn steigt denn bei ihnen?

Um ihnen zu helfen, sollte ja gerade die Masse der verfügbaren Arbeit auf alle Arbeitenden verteilt werden. Und dazu sollte die 35-Stunden-Woche dienen.

(...) Schon heute gibt es Zweifel daran, ob die 35-Stunden -Woche genug sein wird, die Arbeitslosigkeit zu absorbieren. Und noch sicherer wird die weitergehende Rationalisierung der Arbeit noch mehr Menschen auf die Straße werfen. Also wird 1995 nicht die 35-Stunden-Woche aktuell sein, sondern die 30-Stunden-Woche. Werden sie dann um weitere fünf Jahre vertröstet werden?

Da ist noch eine weitere merkwürdige Bestimmung in den Tarifvertrag aufgenommen worden. „Freiwillig“ darf ein bestimmter Teil der Belegschaft 40 Stunden arbeiten. Da dürfte jedem, der einmal ein Fabriktor durchschritten und in den realistischen Alltag eines Betriebes hineingeschaut hat, klar sein, daß es im kapitalistischen Betrieb, genau wie bisher in der sozialistischen Planwirtschaft, keine individuelle Freiwilligkeit gibt. Das ist das Besondere der Gewerkschaft, daß sie individuell Hilflosen einen kollektiven Schutz gegeben hat. Das Flaggschiff der kapitalistischen Intelligentia, die 'Zeit‘, verkündet es laut: Der neue Tarifvertrag ist die Überwindung der kollektiven Bindung - die ja das einzige Heil des Arbeitnehmers ist. Den primitiven Gewerkschaftsbossen ist dies anscheinend noch nicht aufgegangen, und den linken Zeitungsschreibern auch nicht.

Stehen wir hier am Anfang des Endes der Arbeitnehmersolidarität? Das bedeutet den Eintritt in die Ellenbogengesellschaft. Können wir hoffen, daß die Arbeitnehmer der DDR nach dem Abklingen der ersten Euphorie erkennen, daß ihr früherer Zustand auch Garant einer persönlichen Sicherheit war? Oder wird in dem kommenden Boom das Entzücken der Erfolgreichen so laut sein, daß die Klage der großen Masse der Beiseitegeschobenen überhört wird?

Walter Hinze, Berlin

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