piwik no script img

Tanzszene Berlin in der Corona-ZeitVon der Praxis abgeschnitten

Keine Aufführungen, kein Training, keine Berührungen, kaum Perspektive. Die Covid-19-Maßnahmen haben die Tanzszene besonders hart getroffen.

Als Tanz noch kuscheln durfte: „The Nature of us“ von Angela Schubot & Jared Gradinger Foto: Claudia Hill

Ich wüsste jetzt nicht, wen es besonders kalt erwischt hat, außer alle“, so bringt Simone Willeit, Geschäftsführerin der Uferstudios, der größten Berliner Tanzproduktionsstätte, die Lage der Szene auf den Punkt. Der zeitgenössische Tanz ist fast ausschließlich in freien Strukturen ohne feste Anbindung an subventionierte Häuser organisiert.

Eine Choreografie wird von bis zu zehn internationalen Spielstätten koproduziert. Das heißt: Wenn der Verwaltungsaufwand in der Szene schon immer ein Wahnsinn war, dann ist er in Folge der Veranstaltungsabsagen durch die Covid-19-Maßnahmen zu einer unentwirrbaren Matrix geworden.

Trotzdem fühlen sich in Berlin lebende Tänzer_innen privilegiert. Mit den 5.000 Euro für Soloselbstständige aus dem Soforthilfe-Programm II hat der Senat immerhin etwa zwei Dritteln der Szene über den ersten Schock hinweggeholfen.

„Alles abgesagt, aber boo hoo, nicht alles verloren“, so fasst es der Choreograf Jeremy Wade a.k.a. the battlefield nurse zusammen: „Dank sei dem Tanzbüro, dem Landesverband (LAFT), dem Verein Zeitgenössischer Tanz Berlin, und den unumstößlichen Kulturbewegern und -aufmischern, die sich für uns starkgemacht haben. Dank sei den Institutionen, die uns bezahlt haben, ob die Show stattfand oder nicht. Dank sei denen, die dort arbeiten, und zwar zweimal so hart wie sonst!“

Verluste im Verschiebepuzzle

Solidarität, dafür ist die Tanzszene bekannt. So haben die Uferstudios mit Einsetzen der Maßnahmen alle Stornierungsregelungen zum Buchen von Studios und Bühnen – die Grundlage des eigenen Geschäftsmodells – außer Kraft gesetzt. Simone Willeit trägt das Risiko in der Hoffnung darauf, dass Institu­tionen eher überleben als Einzelkünstler_innen.

Das Geld aus dem Nothilfepro-gramm ist erschöpft, die Zeit der Ausfallhonorare vorbei

Diese Haltung der Uferstudios, die auch für Institutionen wie unter anderen die Sophiensaele, das Radialsystem oder das HAU Hebbel am Ufer gilt, weiß auch die Choreografin Modjgan Hashemian sehr zu schätzen. Überhaupt spürt sie Solidarität: „Calm your egos – das tut echt gut!“ Was nichts daran ändert, dass der Probenraum aufgrund verschobener Projekte und des Schichtsystems selbst für Kleinstbesetzungen im Herbst noch knapper ist als sonst.

„Das Problem liegt im Detail“, bemerkt der Total-Brutal-Gründer Nir de Volff. Die 5.000 Euro hätten ihn gerettet, nur wie es mit seiner verschobenen Premiere in Zusammenarbeit mit Geflüchteten weitergehe, sei unklar. Sein engagierter Spielort, das Dock 11, kann ihm im Verschiebepuzzle erst 2021 wieder einen Termin anbieten, die Projektgelder der Senatsförderung müssen allerdings bis Ende 2020 aufgebraucht sein.

„Das ist wie erst mal lächeln, aber unter dem Tisch dann doch ein paar Hindernisse bereithalten“, meint de Volff. „Trotzdem kann ich nicht sagen: Hallo Senat, ihr seid sooo böse. Das, was passiert, ist keine Bigotterie. Es ist die Situation. Berlin ist nicht Zürich und wir sind hier Tausende guter Künstler_innen.“

Laut Nir de Volff könnten es bald noch mehr werden: „Viele, vielleicht Tausende, wollen nach Berlin, nachdem sie von den Hilfsmaßnahmen erfahren haben. Aber was machen wir mit all den Leuten? Wir können nicht sagen: Das ist eine deutsche Stadt, Tanz ist eine deutsche Kunst. Berlin ist ein Label für Tanz geworden. In der internationalen Wahrnehmung komme ich nicht mehr aus Tel Aviv. Ich komme aus Berlin. Aber was sich hier abspielt, ist nicht nur ein deutsches Problem. Wie können wir darauf aufmerksam machen, dass die Gelder aus den Eurobonds auch in anderen Ländern in die Kulturszene fließen müssen?“

Gerade für international erfolgreiche Choreograf_innen sei das Wegbrechen der Gastspiele ausschlaggebend. Eine Covid-19-Ausfallhonorarregelung habe es fast nur in Deutschland gegeben.

Bereicherung für Berlin

So wichtig die internationalen Gastspiele für Choreograf_innen sind, so unentbehrlich können die Berliner Produktionsmittel für internationale Tänzer*innen sein. Bis zu 90 Prozent kommen für Produktionen des Choreografen Christoph Winkler aus dem Ausland. Die bezahlten Probenzeiten trügen gerade für nichteuropäische Künstler_innen dazu bei, die Aktivitäten der lokalen Communities mitzufinanzieren. Die Ästhetiken, die sich dadurch entwickeln, bringen wiederum neue Ideen und Sichtweisen nach Berlin.

Wobei Nothilfe anderswo weit existenzieller sei. So habe der Tänzer Robert Sempija erst einmal Nahrungspakete für Bedürftige in Kampala gesammelt. „Man muss wegkommen vom Fokus auf Europa beziehungsweise Deutschland“, meint auch Winkler.

Was nicht heißt, dass es im Auge des Orkans sicher ist. Das Geld aus dem Nothilfeprogramm ist erschöpft, die Zeit der Ausfallhonorare vorbei. Die Möglichkeit zum Nebenerwerb für alle, die in der Fördergelderlotterie durchfallen, extrem minimiert.

Training, Workshops, System kollabiert

Das Verantwortungsgefühl im Tanzbereich ist hoch, die eigene Gesundheit und die anderer ein hohes Gut

Ein bereits existenzielles Problem der Tänzer_innen ist das Wegfallen von Training, Unterricht und Workshops – eines der Themen, für das sich der Dachverband Tanz derzeit einsetzt. Fast alle Tanzschaffenden sind trainierende Virtuosen und gleichzeitig Lehrende und Forschende, die Unterricht geben, nehmen und ein ausgeprägtes psychosomatisches Fürsorgesystem unterhalten. Dieser ganze Bereich einschließlich seiner Ökonomie ist kollabiert. „Das Schlimmste ist, dass ich keine Körperarbeit machen kann. Ich vermisse die Arbeit im sistering, einem Ort für Frauen, und würde selbst alles für eine Körpersession von Lea Kieffer geben“, so die Choreografin Angela Schubot.

„Die Künstler_innen sind in diesem Sinn wirklich ‚locked‘“, sagt Ricardo Carmona, Tanzkurator im HAU Hebbel am Ufer. „Sie sind von ihrer Praxis abgeschnitten.“ Der künstlerische Leiter des Radialsystems, Matthias Mohr, ergänzt: „Der zeitgenössische Tanz hat sehr viel Wissen dahingehend entwickelt, wie ein anderes Miteinander imaginiert, erspürt und realisiert werden kann. Er ist ein wichtiges Forum, das Marginalisierungen innerhalb unserer Gesellschaft verhandelt. Dass diese Expertise nun, da sie besonders gebraucht wird, nicht angewendet werden kann, ist doppelt tragisch. Wir müssen Künstler_innen dafür Räume öffnen, ohne sie dabei in irgendwelche Formate zu zwängen.“

Was geht und was nicht? Mit dieser Frage steht die Szene alleine da. Gesundheitsämter haben sich bislang als wenig ansprechbar erwiesen. Strategien werden aufgrund der Empfehlungen von (neu engagierten) Betriebsärzt_innen, Aerosole-Expert_innen und des HKI ausgearbeitet. Das Verantwortungsgefühl im Tanzbereich ist hoch, die eigene Gesundheit und die anderer ein hohes Gut. Von daher herrscht im Allgemeinen eher eine Atmosphäre des Insichgehens als eine lauter Forderungen.

Dass ohne Forderungen jedoch schnell die Gefahr besteht, übersehen zu werden, das weiß die viel bewegende Berliner Kulturmanagerin Madeline Ritter, der die Szene einiges zu verdanken hat. Sie fordert „Unterstützung, auch wenn nichts gemacht, nichts präsentiert werden kann“. Als Tanzproduzenten-Team Diehl & Ritter setzt sie sich derzeit zusammen mit Joint Adventures aus München und dem Dachverband Tanz auf politischer Ebene für ein pandemiebedingtes Förderprogramm speziell für den Tanz ein.

Was, da sind sich alle darauf Angesprochenen einig, nicht die Lösung sein kann: Streamen. „Es braucht so viel andere Fähigkeiten, um online in einen ‚Float‘ zu kommen und nicht im digitalen Schleim unterzugehen“, so der Choreograf Sergiu Matis. „Ich versuche mit verkörperter Technologie zu leben und die wechselseitigen Einflüsse von digitaler und analoger Sphäre wahrzunehmen. Live-Performances haben weichere Grenzen, sie können die Betrachter mit hineinziehen und mitverwandeln.“ Und die battlefield nurse Jeremy Wade fügt zur Deutlichkeit hinzu: „Hört auf, eure Schlafzimmertänze zu streamen! Die Welt brennt!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.