: Tanz den Butzemann
■ Schnürschuhtheater zum Gruseln: „Eine (fast) menschliche Regung“
„Tanz den Mussolini“, stöhnt es aus den Boxen, „tanz den Adolf Hitler, und wackel' mit dem Hintern!“
Und schon tanzen sie, die Kapuzenmänner, schon wackeln sie fröhlich im Trockeneisnebel, im Stroboskoplicht, im Donnerwettertakt der Discomucke. Wir sind nicht in der Tekknodisco, sondern auf der Bühne im Schlachthof: Die Mimen des Schnürschuh-Theaters spielen Faschisten, in ihrer neuen Produktion „Eine (fast) menschliche Regung — Das Lust- Spiel zum faschistoiden Grundverhalten.“
Ein „munterer Reigen über die unterschwelligen Zusamenhänge von Macht, Sex und Geld“, so war's versprochen — und so wird tatsächlich 90 Minuten munter getanzt und gedonnert, daß das Publikum nur mehr staunen kann. Damit unterscheidet sich das Stück freilich kaum vom kritischen Potential einer handelsüblichen Discothek — und teilt Über die Wurzeln des Faschismus ebensoviel mit wie jene.
In den Spezialeffekten aus der Disco sehen die engagierten Schnürschuh-Aktivisten ja möglicherweise ein Mittelchen, um beim jugendliche Zielpublikum anzukommen. Genauso möglich, daß auch 15jährige mit diesem inszenatorischen Kunstgriff weit unterfordert sind. Die Knalleffekte nämlich übertönen jeden Ansatz zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema. Und stellen nicht selten die Charaktere in den Schatten: Wenn es gleich zur Begrüßung heißt „Herzlich Willkommen im faschistoiden Gruselkabinett“, dann beschreibt das schon recht genau den wächsernen Charakter der nachfolgenden Schnürschuh-Figuren.
Zumal ihnen der Regisseur Martin Östreicher auch kaum Zeit läßt, um überhaupt zu agieren. Temporeich reiht er Szene an kurze Szene und läßt die vier Akteure im Stakkatorhythmus die Rollen wechseln. Vom Hauptmann zum Hundeliebhaber, von der Hure zur Ärztin sind es nur Sekunden. Dieses „Prinzip der Zerstückelung“ wirkt in seltenen Momenten tatsächlich irritierend und wirft die Klischees vom guten oder bösen Mitmenschen schön durcheinander.
Aber wie das beim fixen Zappen durch die Programme eben ist: Hängen bleibt nichts — außer der Erinnerung an die schönsten Schockeffekte. Mit denen schmückt Östreicher auch seine beiden Hauptfiguren, das Mörder
hier Schauspieler
mit Arm
Heilhitlerarm, völlig losgelöstF.: Olaf Schlote
pärchen Johnny und Miriam. Wenn Johnny die Geschichte von Hasso erzählt, dem gutgebauten Schäferhund, der ihm seine erste Erektion besorgte; oder wenn er Johnny mit einem abgerissenen, blutigen Arm (samt Hakenkreuzbinde) durchs Leben schlurfen läßt, als kleiner Wink fürs Publikum.
So grell und gruselig inszeniert Östreicher seine Faschisten-Revue, daß die Ungeheuer schon nicht mehr wie von dieser Welt erscheinen. Da bleibt dem Publikum, sich ganz in den Bann
ziehen zu lassen und auf gute Unterhaltung zu hoffen. Denn wie schallt es zu Beginn so richtig aus den Boxen: „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive unserer heutigen Reise ins innere Ausland.“
Thomas Wolff
Weitere Aufführungen heute und morgen um 20 Uhr im Schlachthof
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