■ Taiwans Präsident will nach Peking reisen: Entspannung über dem Pazifik
Vor kaum zwei Monaten hielt die Welt den Atem an: Chinesische Testraketen durchschnitten den Himmel über Taiwan, während amerikanische Flugzeugträger vor der Insel patrouillierten und die Taiwanesen das erste Mal in freier Abstimmung ihren Präsidenten wählten. Was bis dahin niemand für möglich gehalten hatte, schien plötzlich in gefährliche Nähe gerückt: ein Waffengang zwischen der einzigen Supermacht und dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, zwischen den Führungsmächten des westlichen und des östlichen Kulturkreises. Die reaktionäre Vision vom „Kampf der Zivilisationen“, der den Kalten Krieg ablöste, machte sich erneut in den Köpfen breit.
Inzwischen konnte Taiwans alter und neuer Präsident Lee Teng-hui am Montag sein Präsidentenamt ohne militärische Drohungen antreten. Dies gibt im nachhinein vielen Taiwanesen recht, die noch zum Höhepunkt der Raketenkrise im März ihre Sorglosigkeit bewahrt hatten. Schließlich sind die Bewohner Taiwans heute ein pragmatisches, von den Ideologien Mao Tse-tungs und Tschiang Kai-tscheks gleichermaßen gebranntes Volk, das wohl rechtzeitig erkannte, wie wenig ein Krieg um ihre Insel der Interessenlage beider beteiligten Großmächte entsprach.
Gerade der derzeit aufflammende Handelskrieg zwischen Peking und Washington macht deutlich, daß eine wechselseitige Containment-Strategie, wie sie einst im Kalten Krieg verfolgt wurde, den ökonomischen Beziehungen zwischen den beiden Pazifikmächten nicht mehr gerecht wird. Das gemeinsame Handelsvolumen zwischen den USA und China übertraf 1995 erstmals 50 Milliarden Dollar und hat sich innerhalb von nur vier Jahren verdoppelt. Zudem haben sich Peking und Washington innerhalb des Asiatisch-pazifischen Wirtschaftsforums (Apec) zur langfristigen Zusammenarbeit verpflichtet – ohne die das Wirtschaftswachstum der Region nicht stattfindet, von dem auch die Großmächte abhängen.
US-Außenminister Warren Christopher traf vergangenen Freitag wohl den richtigen Ton, als er dazu mahnte, China weder zu verteufeln noch zu romantisieren. Wenn Washington und Peking nun wie versprochen regelmäßige Gipfeltreffen abhalten, wird vor allem Taiwan von der Entspannung über dem Pazifik profitieren. Daß dann auch der taiwanesische Präsident nach Peking reisen will, wo er bislang partout nicht aufkreuzen wollte, darf also nicht erstaunen. Georg Blume, Tokio
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