piwik no script img

Archiv-Artikel

TINA ist keine Alternative

Der nationale Wettbewerbsstaat ist an die Stelle des Wohlfahrtsstaates getreten. Schröder muss mehr tun, als Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen zu beschneiden

Für maßgebliche Teile des Arbeitgeberlagers hat der Sozialstaat keine ökonomische Funktion mehr

Der Kapitalismus ist tot, es lebe der Kapitalismus. Kein Wirtschaftssystem war in der Menschheitsgeschichte so anpassungsfähig wie die Marktökonomie. Seit jeher ist sie durch Strukturwandel und Strukturbrüche gekennzeichnet. Für die politischen Entscheidungsträger ist es jedoch wichtig zu erkennen, wo die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten der politischen Gestaltung der jeweiligen historischen Entwicklungsphase dieses Wirtschaftssystems liegen. Werden diese Handlungsspielräume nicht erkannt, dann rächt sich die Ökonomie gnadenlos an der Politik.

Der Bundeskanzler hat dies verstanden. Es gibt keine Alternative zu den Strukturreformen der Bundesregierung, lautet bekanntlich seine Maxime. Gerhard Schröder liegt richtig mit seiner Einschätzung, dass sich in den letzten Jahrzehnten ökonomische Umbrüche ereignet haben, die ein einfaches Weiter-so der Politik ausschließen. Er irrt allerdings, wenn er die rot-grüne „Reformpolitik“ als alternativlose Anpassung an ökonomische Sachzwänge begreift.

Doch was ist ökonomisch wirklich neu heutzutage? Der rheinische Kapitalismus ist Vergangenheit. Nachdem Anfang der 70er-Jahre dessen institutionelle Säulen – namentlich der „keynesianische Klassenkompromiss“ und das Weltwährungssystem von Bretton-Woods – in sich zusammenbrachen, halbierten sich die Wachstumsraten. Das kurze goldene Zeitalter der Vollbeschäftigung war beendet. Die Massenarbeitslosigkeit wurde wieder zu einer festen Größe.

Unter dem Stichwort der Globalisierung vollzog sich eine Erweiterung und Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung sowie eine Dominanz der internationalisierten Finanzmärkte über die Produktion. Letzteres hat eine verstärkte Shareholder-Value-Orientierung der börsennotierten Unternehmen zur Folge. Das damit einhergehende Streben nach höheren Profitmargen trieb die Neustrukturierung der betrieblichen Wertschöpfungsketten voran.

Diese ökonomischen Umwälzungen – die immer auch das Ergebnis politischer Entscheidungen waren – haben den traditionellen erwerbsarbeitszentrierten Sozialstaat bis ins Mark erschüttert. Tag für Tag frisst die hohe Massenarbeitslosigkeit die Finanzierungsbasis der sozialen Sicherungssysteme. Die Auflösung von Normalarbeitsverhältnis und Normalfamilie sowie die ökonomische Fehlkonstruktion der deutschen Einheit taten ein Übriges. Der sinkende Unternehmenssteueranteil an der Sozialstaatsfinanzierung – durch Steuersenkungen und erhöhte steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten infolge der Globalisierung – besorgte den Rest. Ein einfaches Weiter-so hätte den Marsch in den absolutistischen Lohnsteuerstaat bedeutet.

Die konkrete Krisenlösungsstrategie ist nun immer abhängig von den tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Mit jedem zusätzlichen Arbeitslosen und einer fortschreitenden Fragmentierung der Arbeitswelt schwand der Einfluss der Gewerkschaften. So wurde bereits in den 80er-Jahren der Weg frei für den marktkonformen Umbau der Staatsfunktionen. Der nationale Wettbewerbsstaat (Joachim Hirsch), der nun an die Stelle des Wohlfahrtsstaates trat, ordnet alle Staatsfunktionen der internationalen betrieblichen Konkurrenzfähigkeit unter. Auch die Sozialpolitik und die Regulierung des Arbeitsmarktes folgen diesem Imperativ.

Dabei werden Tempo, Breite und Tiefe der Umwälzung immer wieder von Neuem festgelegt. Die ausgeprägte konsensuale Struktur des deutschen Sozialstaates, vereinzelt aber auch noch rot-grüne Regierungspolitik, setzen hierbei ein Tempolimit, dass so manchen selbst ernannten Reformer in den Wahnsinn treibt. Allen voran BDI-Präsident Michael Rogowski und Bundespräsident Horst Köhler. Sie polemisieren, provozieren, lassen Testballons steigen und sondieren auf diese Weise das Gelände der Baustelle Sozialstaat.

Unter Beschuss geraten zunächst die nicht allgemein akzeptierten Bestandteile des Sozialstaates: Der Flächentarifvertrag soll verbrannt werden, der Kündigungsschutz aufgehoben und die Mitbestimmung auf das Niveau der Schülerselbstverwaltung reduziert werden. Hinter dieser neuen Streitunkultur verbirgt sich eine Verschiebung der Interessenlagen im Arbeitgeberlager.

Wenn heute Michael Rogowski aus der paritätischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme aussteigen will, dann zeigt dies nur, dass für maßgebende Teile des deutschen Arbeitgeberlagers der Sozialstaat keine ökonomische Funktion mehr hat. Die die Nachfrage stabilisierende Funktion der sozialen Sicherungssysteme hat sich für multinational operierende Großunternehmen relativiert. Nachfrageschwankungen werden heute auf der betrieblichen Ebene durch die „atmende Fabrik“ – sprich flexible Löhne und Arbeitszeiten – sowie durch ein stärkeres Engagement auf den Auslandsmärkten aufgefangen.

Der Umbau und Abriss des traditionellen Sozialstaates wiederbelebt jedoch nicht die Wachstumskräfte. Was aus betriebswirtschaftlicher Sicht einzelner Unternehmen sinnvoll erscheint, verschärft die gesamtwirtschaftliche Wachstums- und Beschäftigungsschwäche. Die Zunahme der Lohnflexibilität und -ungleichheit verlängert in Konjunkturabschwüngen die Talfahrt. Die staatliche Verschlankungskur geht auf Kosten des Bildungswesens, der Verkehrsinfrastruktur, der Forschung, Entwicklung und Innovationsfähigkeit der gesamten Volkswirtschaft.

Die Folge des Arbeitskostenwettlaufs ist die dreifache Spaltung der Konjunkturlandschaft: eine Spaltung zwischen blühender Export- und stagnierender Binnenwirtschaft, zwischen profitablen Großunternehmen und konkursgefährdeten klein- und mittelständischen Betrieben sowie zwischen der wirtschaftlichen Belebung West und dem Abschwung Ost.

Die Mitbestimmung soll auf das Niveau der Schüler-selbstverwaltung reduziert werden

Die aktuelle „Reformpolitik“ bekommt diese Krisenerscheinungen nicht in den Griff, da sie sich weiterhin durch konjunktur- und verteilungspolitische Passivität auszeichnet. Der infolge der ökonomischen Strukturbrüche begrenzte nationalstaatliche Handlungsspielraum ist nicht durch eine internationale wirtschaftspolitische Koordinierung ersetzt worden. Dies betrifft sowohl die europäische Harmonisierung der Unternehmenssteuern als auch eine konjunkturgerechte Ausrichtung der europäischen Geld- und Finanzpolitik jenseits des neoliberalen „Brüsseler Konsensus“.

Auch eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte könnte dazu beitragen, politische Gestaltungsmöglichkeiten wieder zurückzugewinnen. Die Bundesregierung mag ihre Gründe haben, weswegen sie so lange auf diese politische Handlungsalternativen verzichtet hat. Eine offene Debatte hierüber würde ihr aber zu mehr politischer Glaubwürdigkeit verhelfen als die ständige Verkündung von TINA – „There is no alternative“.

DIERK HIRSCHEL