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Archiv-Artikel

THEORIE ALS ACHTZIGER-JAHRE-ZITAT VS. POSTÖDIPALE SUBKULTUR Im Behauptungs-Jive

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VON ARAM LINTZEL

Die Retromania zirkuliert auch weit abseits der Popmusik, oder ist es anders zu erklären, dass uns die Gauck-Kandidatur ein lahmes Revival der Totalitarismusdebatte bescherte, einen Historikerstreit ohne Historiker gewissermaßen? Ein Retrobegehren ist auch im neuen Buch des an dieser Stelle schon erwähnten Philosophen Byung-Chul Han am Werk. Es heißt „Transparenzgesellschaft“ und ist ein großes, fettes Achtziger-Jahre-Zitat.

Schon der Schreibstil reaktiviert die Apodiktik der Achtziger und führt deren Behauptungsjive neu auf: „Die Transparenzgesellschaft ist eine Hölle des Gleichen“, heißt es. Oder: „Die transparente Kommunikation, die nichts Undefiniertes mehr zulässt, ist obszön.“ Und dann ist da noch der graffitofähige Slogan „Ausleuchtung ist Ausbeutung“. Wie seinerzeit Foucault, Virilio oder Baudrillard dramatisiert Han Mikrobeobachtungen zum Allgemeingesellschaftlichen empor. Statt „Disziplinargesellschaft, „Rasender Stillstand“ oder „Hyperrealität“ heißt es jetzt: „Evidenzgesellschaft“, „Hypervisibilität“, „Intimgesellschaft“, „Positivität“. Die Diagnose, dass Transparenz zum Fetisch geworden ist, ist ganz bestimmt plausibel.

Han variiert seine schon in dem erfolgreichen Essay „Müdigkeitsgesellschaft“ eingeführte These, wonach es heute ein Übermaß an „Positivität“ gebe, das jedes Anderssein eliminiere. Elegant verdichtet anderswo vorgedachte Gedanken, sodass der Text – ähnlich wie eine amtliche Neo-Synthiepop-Band – stellenweise originaler klingt als die Originale.

Blind für Widersprüche

Zweifellos hat Han ein Gespür für Gegenwartsdiagnostik; sein Gestus erzeugt allerdings nach einer Weile klaustrophobische Effekte. Er spricht immer nur in der Gegenwart und leitet fast nichts historisch her. Ein Außen oder zumindest eine dialektische Spannung im Inneren der „Transparenzgesellschaft“ scheint undenkbar. Nicht umsonst überzeichnet Han sie als „totalitär“. Seine Theorie ist so selbst ein Symptom der „Positivgesellschaft“, in der es so etwas wie Negation angeblich nicht geben kann. Der Mangel an Interesse für historische Fluchtlinien macht ihn blind für Widersprüche und verpasste Möglichkeiten.

Nun erscheint mit dem Buch „Der Klang der Familie. Berlin, Techno und die Wende“ zeitgleich ein Werk, das ungewollt einen genealogischen Strang der sogenannten Positivgesellschaft beleuchtet und sich exzellent als Parallellektüre eignet. Die Journalisten Felix Denk und Sven von Thülen haben wie seinerzeit Jürgen Teipel für „Verschwende deine Jugend“ Zitate von Zeitzeugen zusammenmontiert. Daraus ist eine verdammt amüsante Oral History der frühen Berliner Technoszene entstanden, die nicht nur Retromaniacs gefallen dürfte.

Einige O-Töne könnten aus Erhebungen zu Hans Buch stammen. Die Beschreibungen der ersten Raves etwa klingen wie Illustrationen des „Rasens im Positiven“ in einem „Nahraum ohne Außen“ (Han). Und der DJ „Der Würfler“ liefert Erfahrungsdaten zu Hans Thesen, wonach es in der heutigen Gesellschaft keine „Negativität der Unterbrechung“ und „keinen Abschluss“ gebe: „Man kam einfach nicht raus, man konnte sich dem Sog nicht entziehen. Diesem Sog, immer weiter zu feiern. Nicht aufzuhören.“

Auch Hans These vom Ende der „szenischen Distanz“ und der Ablösung des „Theatralischen“ durch das „Taktile“ könnte als nachträglicher Diskursüberbau zum Raver-Selbstverständnis dienen. „Techno hat von Anfang an gesagt: Stars haben wir nicht. Deswegen war das Licht ja auf dem Dancefloor, und der DJ stand im Dunkeln, sagt der Art Director Czyk im „Klang der Familie“.

Vor allem die von Han vermisste „Negativspannung“ spielte in Techno – glaubt man den interviewten Protagonisten – anders als bei Punk und Indierock keine Rolle mehr. „Techno konnte sich lange davon fernhalten, sich als Jugendkultur einen Rahmen zu geben, um sich von anderen abzugrenzen und sich dadurch zu definieren“, erklärt der DJ und Journalist Sascha Kösch alias Bleed. Könnten die angeblich totalitären gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Entstehung also ambivalenter gewesen sein, als Hans Diagnose es glauben machen will? Die Möglichkeit, dass eine postödipale Subkultur, die sich nicht mehr an Altvordern abarbeiten wollte, für eine bestimmte Zeit befreiend gewesen sein könnte, hat in Hans Klage über die „Positivgesellschaft“ keinen Raum.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin