TAZ-SERIE BERLIN 2020 (TEIL 5): BILDUNG: Wir müssen an unsere Grenzen gehen
Die Erwartungen an Schulen wachsen: Sie sollen bilden, integrieren, erziehen und so fort. Zum Glück sind Schulen lernfähig, sagen zwei, die es wissen müssen.
Alles fließt, Schule auch. Derzeit fließt sie schnell. Das neue Schulgesetz brachte - drängelnd und werbend - mehr Eigenverantwortung und Offenheit an die Schulen. Eltern und Schüler halten nun eine knappe Mehrheit in den Schulkonferenzen im einstigen Katheder-Land. Die Abschaffung der Hauptschulen erzeugt neue Schülerströme, quer durch Stadt und Schularten.
Im Räderwerk Schule wirken neue Stellschrauben: leistungsorientierte Aufnahmekriterien, bestimmende Notenschnitte bereits in der Grundschule, das Los, eine steigende Nachfrage nach Privaten, stärkere Selektierung, volle Stundentafeln bis in den Nachmittag, Tempo beim Abitur.
Die Ansprüche an Schule sind gewachsen: Sie ist - PISA, PISA über allem - Schule und Statussymbol der Stadt, wenn nicht gar der Nation. Sie soll eine wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern nicht deutscher Herkunftssprache von Grundgesetz und Aufklärung überzeugen und trotz der zunehmenden Kluft zwischen Einkommensklassen und Quartieren mehr gemeinsames Lernen ermöglichen. Beim Unterricht harrt die Herkules-Aufgabe der individuellen Förderung und Forderung einer Lösung. Binnendifferenzierung - aber wie? Und das alles bei auseinanderfallenden Lebenswirklichkeiten von Schülergruppen und Lehrerkollegien.
Jens Stiller, 43, ist Studienrat für Geschichte und Wirtschaft. Bis Ende 2010 war er einige Jahre Pressesprecher des Bildungssenators, davor Lehrer am staatlichen Schöneberger Robert-Blum-Gymnasium. Zum 1. Januar 2011 hat er die Leitung des Gymnasiums der Königin-Luise-Stiftung, einer Privatschule in Dahlem, übernommen.
Cordula Heckmann, 52, leitet seit August 2009 die Gemeinschaftsschule des Campus Rütli in Neukölln. Zuvor war sie stellvertretende Schulleiterin der privaten Grund- und Realschule der Königin-Luise-Stiftung in Dahlem, dann Leiterin der der Heinrich-Heine-Realschule, die jetzt Teil der Rütli-Gemeinschaftsschule ist.
No future also? Nein, denn der Schüler Schule hat sich als lernfähig erwiesen. Öffnung, Profilbildung, Good-practice-Orientierung, Auswahl und Vernetzung werden eine Schullandschaft hervorbringen, in der die einzelnen Schulen unterscheidbarer werden. Die Abstimmung über das, was von Schülern wie Eltern als gute Schule verstanden und anerkannt wird, erfolgt künftig mit den Füßen, das Grundschulzeugnis unterm Arm - wie sonst? Solange der schnelle Kick durch glänzende Noten und bestmögliche "Verwertbarkeit" von Abschlüssen den Blick aufs Wesentliche nicht trübt, ist gegen diese marktähnlichere Orientierung wenig zu sagen.
Das Bekenntnis zur Konkurrenz hat seinen Preis: Erfolgreich wird die Schule sein, die sich Rechenschaft ablegt, die Beschau und Bewertung als Steuerungsmittel zulässt, die Hinweise und Wünsche annimmt, die flexibel, schnell und originell reagiert. Das erreicht sie, wenn sie aus Betroffenen Beteiligte macht. Subsidiarität is it - vor Ort lösen, was vor Ort gelöst werden kann.
Privatschulen, in Berlin übrigens nicht gerade üppig gefördert, haben ihre gute und noch zunehmende Berechtigung, wenn sie diese Erfolgskriterien erfüllen. Sie sind derzeit mit knapp zehn Prozent Anteil an der Schülerschaft keine Bedrohung. Die steigende Zahl der Gemeinschaftsschulen belegt, dass das freie Elternwahlrecht nicht in der Abgrenzungs- und Leistungsspirale enden muss. Schulen haben Zukunft, wenn es ihnen gelingt, Lebenswirklichkeiten und Ansprüche auszuloten und im Dialog der Schulöffentlichkeit human und nachfragegerecht zu beantworten.
Und auch das bringt die Zukunft: Größere Einheiten und Verbünde, um attraktive Kursangebote halten zu können, die Diskussion um das Abitur nach 12 oder 13 Jahren, Sekundarschulen, die mit Förderangeboten und entspannterer Stundentafel einigen Gymnasien den Rang ablaufen, Schulen unter dem Druck sinkender Schülerzahlen, Schulen vor oder in der Schließung. Schon wird die Ressourcendebatte schärfer. Wer weitere, entscheidende Zuschläge für Migranten und/oder arme Kinder verlangt, muss - nicht wohl, sondern übel - andernorts sparen. Denn das bettelarme Berlin wird immer öfter kostenneutral zaubern müssen. Für den Moment verbessert sich die Schüler-Lehrer-Relation noch, da die Zahl der Lehrer langsamer als die der Schüler sinkt. Diese Demografie-Dividende gehalten zu haben, um Chancengerechtigkeit gestalten zu können, ist auch ein Erfolg der Bildungspolitik.
VON JENS STILLER
Als Schulleiterin einer Gemeinschaftsschule im sozialen Brennpunkt träume ich von einer Schule, in der leistungsstarke und leistungsschwache SchülerInnen miteinander und voneinander lernen, in der Berliner SchülerInnen verschiedener Herkunft ihre Unterschiede weniger als Gegensätze denn als Chance begreifen. Dazu brauchen wir Ganztagsschulen, die in ihrem Stadtteil gut mit den Jugendfreizeiteinrichtungen, mit der lokalen Wirtschaft, den sozialen Diensten und der Zivilgesellschaft vernetzt sind - Schulen, die mit ihrer Qualität einen Beitrag zur besseren sozialen Entwicklung benachteiligter Stadtteile leisten.
Aus unterschiedlichen Gründen können nicht alle Elternhäuser ihren Kindern in dem gewünschten Maß ein Bildungsangebot machen, das deren weiterer schulischer und beruflicher Laufbahn förderlich wäre. Ganztagsschulen übernehmen hier eine zentrale Aufgabe. Um ihr gerecht werden zu können, muss Schule sich vernetzen, Kooperationen eingehen. Wir als Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli bieten unter anderem in der Kooperation mit der Musikschule Instrumentalunterricht und mit der Volkshochschule zertifizierte Türkisch/Arabisch-Kurse im Freizeitbereich an. Gemeinsam mit der Freudenberg Stiftung entwickeln wir im "Quadratkilometer Bildung" neue Ansätze für Förderkurse, schulische Übergänge und Lernwerkstätten.
Wenn Eltern von staatlichen Transferleistungen leben, haben Kinder und Jugendliche oft kein Rollenvorbild für ihren Eintritt ins Berufsleben. Um diesem Mangel zu begegnen, brauchen Schulen den engen Kontakt zur (lokalen) Wirtschaft. Über Praktika und so fort erfahren die SchülerInnen aus erster Hand etwas über verschiedene Berufsbilder und welche Bedeutung Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Einsatzbereitschaft im Berufsleben haben. Ich berichte gern, dass wir in der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli im letzten Sommer im Jahrgang 10 von 120 SchülerInnen nur zwei ohne Abschluss entlassen haben und 35 mit einem Mittleren Schulabschluss, der ihnen den Übergang in die gymnasiale Oberstufe erlaubt.
Alle in der Bildung Verantwortlichen müssen deshalb in den nächsten zehn Jahren Anstrengungen unternehmen, besser als bisher Bildungsbiografien von Anfang an zu begleiten und mit den Kitas, Freizeiteinrichtungen, sozialen Diensten, Stiftungen und Betrieben, auch präventiv mit der Polizei, eng aufeinander abgestimmt zusammenzuarbeiten, um damit Erfolge auch bei denjenigen SchülerInnen zu erzielen, die mit großen Problemen belastet schulisch und gesellschaftlich zu scheitern drohen. Dabei muss darüber nachzudenken sein, ob die bestehenden Ressort- und Verwaltungsgrenzen das leisten können, was sie sollen.
Das Modellprojekt Campus Rütli rüttelt an diesen Grenzen, oder wie Christina Rau, die Schirmherrin des Projekts, sagte, es sei an der Zeit, nicht länger in Zuständigkeiten zu denken, sondern in Verantwortlichkeit. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, ist ein wesentlicher Auftrag von Schule. Die aktuelle Berliner Schulstrukturreform leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Jetzt müssen die Schulen die Chancen nutzen, während die Schulverwaltung in der Verantwortung bleibt, diesen Veränderungsprozess klug zu unterstützen. Auch gute Strukturen können nicht Menschen und die Qualität ihrer Arbeit ersetzen. Erfolg kann nur mit vielen engagierten Menschen vor Ort erreicht werden. Ich glaube, dass mit der Einführung der Integrierten Sekundarschule, dem Pilotprojekt Gemeinschaftsschule und mit der Idee, die hinter dem Modellprojekt Campus Rütli steht, Schritte unternommen wurden in Richtung auf Schulen, die ich mir wünsche.
VON CORDULA HECKMANN
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