: Systemstörung im System
ICH Was stellt das Diktat der Ökonomie mit unserer Psyche an? Der belgische Psychoanalytiker hat eine Anklageschrift verfasst
VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
Der Neoliberalismus macht einsam und psychisch krank. Dieser Satz gehört längst zum Alltagswissen. Inzwischen bevölkern Befunde dieser Art auch die Büchertische. Wer dort nach soziologischen Untermauerungen der Alltagsweisheit sucht, wird meist enttäuscht. Aus dem Handgelenk bescheinigt uns etwa der Philosoph Byung-Chul Han in dem kleinen Band „Agonie des Eros“ eine „Erfolgsdepression“.
Auch Paul Verhaeghe zieht in seinem jüngst erschienenen Buch „Und ich?“ gegen den krank machenden Neoliberalismus zu Felde. Als Messlatte soll „das gute Leben“ herhalten, wie es Aristoteles vor mehr als 2.300 Jahren vorschwebte. Was den Psychoanalytiker allerdings auszeichnet, ist ein Verzicht auf kulturpessimistische Töne und eine fundierte Bestandsaufnahme derjenigen psychischen „Störungen“, die sich in der aktuellen Ausprägung des Kapitalismus häufen.
Eklatant zugenommen hätten in den letzten Jahren zuallererst Angstleiden, Burnouts und ADHS-Diagnosen, wie Verhaeghe teils aus der eigenen Praxis heraus, teils unter Heranziehung seriöser Studien darlegt. Diese Zunahme sei selbst dann festzustellen, wenn man eine gewisse Etikettierwut und eine gewachsene Akzeptanz von Krankschreibungen wegen psychischer Leiden in Rechnung stelle.
Verantwortlich macht er veränderte Identitätsbildungsprozesse, wie sie heutige, bloß kompetenzorientierte Bildungsinstitutionen im Verbund mit den neoliberalen Arbeitsverhältnissen, deren einzige Gratifikation Geld heiße, ausprägen würden. „Habe Erfolg und genieße.“ Dieses Mantra habe unter den „zwei fundamental gegensätzlichen Verhaltensmustern“, zwischen denen sich Identität ausbilde, zwischen Identifikation und Abgrenzung, Altruismus und Egoismus, das egoistische übermäßig stark privilegiert. Dazu sieht der Autor eine wertfreie, antiautoriäre Erziehung der unbedingten Bedürfnisbefriedigung am Werke, die gepaart mit dem ultraliberalen „Du kannst es schaffen“ und einem Übermaß an Kontrollen notwendig zu Anpassungsschwierigkeiten, Versagensängsten und Schuldgefühlen führe.
Verhaeghe ist kritischer Psychologe genug, um uns nicht einfach auf dem direkten Weg in die Hölle zu sehen. Im Vergleich zu früher gehe es uns nicht schlechter, sondern anders schlecht: „Ausnahmslos jede Gesellschaft macht sowohl krank als auch gesund.“ Daher sei die Frage nicht, ob sie krank mache, sondern „wie eine bestimmte Gesellschaft Abweichungen definiert“, die sie dann zu Krankheiten erkläre, und ob sie dabei nicht „ihren eigenen Zusammenhalt zerstört“.
„Genau das geschieht heute“. Verschwunden sei unter der Herrschaft des Neoliberalismus in den vergangenen 30 Jahren nämlich das Gemeinschaftsgefühl, so die dann doch etwas unterkomplexe Schlussfolgerung. Die sozialen Bewegungen der 60er Jahre hätten nur vorübergehend zu mehr Autonomie und sozialer Durchlässigkeit geführt. Inzwischen habe die Ausprägung neuer Eliten wieder zu einem Stillstand der sozialen Mobilität und großer Einkommensungleichheit geführt.
Weg mit Massenmedikamentierung, Evaluierungswahn und anderen „Angriffen auf die Selbstachtung“: Was es heute vor allem brauche, sei „eine kritische Bewegung gegen die allgegenwärtige Disziplinierung“. Ansetzen möchte Verhaege dabei angesichts der individualistischen Ausprägung unserer Identität nicht bei Appellen an die „Solidarität“ der Einzelnen, sondern bei der „Selbstsorge“: Sie „umfasst in ihrer ursprünglichen klassischen Bedeutung zugleich die Verantwortung, bei der ethischen Gestaltung des eigenen Lebens das Allgemeinwohl miteinzubeziehen“, Mäßigung und Selbstbeherrschung inklusive.
Die Internalisierung von Verzicht als Antwort auf nachholende Disziplinierung und allgegenwärtige Kontrolle? Um den neoliberalen Menschen dazu zu bewegen, reicht Bücherlesen allein sicher nicht.
■ Paul Verhaeghe: „Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“. Übersetzt von Birgit Erdmann und Angela Wicharz-Lindner. Kunstmann, München 2013, 252 Seiten, 19,95 Euro