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System SpitzensportLand des selbstsicheren Lächelns

China könnte bei den olympischen Heimspielen zur dominierenden Sportmacht aufsteigen. Der Grund: ein rigoroses Sportsystem, für dessen Erfolg ein hoher Preis gezahlt wird.

Autsch. Spitzensportler verlangen ihrem Körper viel ab. Manchmal zuviel. Bild: dpa

Vor 25 Jahren, als ich noch im Gymnasium war, gab es einige Schüler in unserer Klasse, die wir "Sportknüppel" nannten. Die taten sich mit dem Lernen schwer, hatten aber mehr oder weniger Sporttalent. Den halben Tag paukten sie im Klassenzimmer Mathe und Physik, den anderen halben Tag verbrachten sie auf dem Sportplatz und trainierten - in der Hoffnung, irgendwann als Sporttalent einen Studienplatz zu bekommen. Doch für keinen meiner Klassenkameraden erfüllte sich dieser Traum. Entweder waren sie sportlich nicht talentiert genug, oder sie waren zu halbherzig. Auf jeden Fall war es sehr schwer, einen Mittelweg zwischen Lernen und dem Sport zu finden. Wer Berufssportler werden wollte, musste auf den Traum vom Universitätsbesuch verzichten, auf eine Sportschule gehen und sich ganz dem Sport zu widmen.

Früher hatten chinesische Sportler fast keine Möglichkeit, Kontakte zu Kollegen aus der restlichen Welt zu knüpfen. Später galt das Motto: "Erst Freundschaft, dann Wettkämpfe". Das führte zum Erfolg von Chinas "Pingpong-Diplomatie" mit Amerika. Meist präsentierten sich chinesische Sportler absichtlich schwach und ließen den Gegner gewinnen, um selbst Freundschaft zu gewinnen. Die chinesische Fußballmannschaft der 50er-Jahre war eigentlich gar nicht so schwach, doch meistens verlor sie ihre Spiele. Sie wollte damit Freunden eine Freude machen.

Wer wollte schon die Kinder auf Sportschulen schicken, damit sie später absichtlich Spiele verlieren. Für die Kinder vom Land war es indes eine gute Gelegenheit, dem Schicksal als Bauer zu entfliehen, wenn sie von einem Trainer einer Sportschule auserwählt wurden. In China gibt es einen Gesellschaftsaufbau, ähnlich dem des indischen Kastensystems. Die Einwohner werden in zwei Gruppen aufgeteilt: Stadt- und Landbevölkerung. Letztere hat nicht viel Möglichkeiten, zu den Ersteren aufzusteigen. Als Stadtbewohner muss man wenigstens nicht hungern. Wird man Profisportler, heißt das auch, dass man zum Stadteinwohner wird.

Bis heute stammen die meisten Hochleistungssportler vom Lande. Als Tang Gonghong 2004 bei den Spielen in Athen Gold im Gewichtheben holte, sagte der Schriftsteller Zhang Xiaozhou: "Sie hat viele harte Jahre durchgemacht. Ihre Familie lebt noch in Armut, die ganze Familie muss sich ein einziges Kang (Bett aus Lehm) teilen. Gott segnet Tang, es ist ihr gelungen, ihre Familie aus der Armut zu befreien. Mit ihrem letzten Stoß hat sie ihre ganze Familie hoch über den Kopf gehoben. Ich verstehe nicht, warum es überhaupt eine Sportart wie Frauen-Gewichtheben gibt. Ich als Gentleman sehen es nicht gerne, wenn Frauen schwer heben müssen. Aber dass das IOC Frauen-Gewichtheben zur olympischen Disziplin gemacht hat, trägt immerhin dazu bei, dass manche chinesische Familie besser leben kann."

Mo Huilan, die 1996 in Atlanta Silber im Pferdsprung errang, beendete im Jahr darauf ihre Laufbahn und studierte dann Journalismus an der Pekinger Volksuniversität. Heute ist sie Fernsehmoderatorin. Einmal sagte sie zu mir: "Nicht allen Sportlern gelingt der Übergang ins Berufsleben so gut wie mir." Viele haben Schwierigkeiten, einen Job zu finden und sich in die Gesellschaft zu integrieren, sogar Landes- oder Weltmeister. Zou Chunlan ist ein Beispiel hierfür. Zou war 1990 chinesische Meisterin im Gewichtheben. Nach ihrer Karriere fand sie keine ordentliche Arbeit. Sie jobbte als Aushilfe in einem Badehaus. Als sie Mutter wurde, konnte sie sich mit ihrem Lohn kaum noch über Wasser halten. Sie beschloss, all ihre Goldmedaillen auf der Straße zu verkaufen. Nachdem die Medien darüber berichtet haben, wurde ihr endlich Unterstützung zuteil und sie konnte eine Reinigung eröffnen.

Die ehemaligen Sportler, erzählt Mo Huilan, seien schlecht ausgebildet, nicht mehr in den besten Jahren und auf dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht konkurrenzfähig. Nun ist die Regierung aktiv geworden. Der Kreis Fangshan in Peking stellt seit zwei Jahren den zurückgetretenen Sportlern für Unternehmensgründungen eine Starthilfe in Höhe von 100.000 bis 300.000 Yuan bereit. Doch das ist nur eine Notmaßnahme. Das Grundproblem ist die Ausbildung der Sportler. Die Turner etwa kommen als Fünfjährige auf Spezialschulen, wo sie ihre Zeit fast ganz dem Training widmen und so wenig lernen, dass viele als Erwachsene nicht einmal einen Brief an ihre Eltern schreiben können.

Zweifelsohne: Das aktuelle System, das Talente rücksichtslos zu Hochleistungssportlern ausbildet, funktioniert. China gewinnt immer mehr Goldmedaillen. Doch der Preis dafür ist hoch. Ein Freund von mir gewann 1986 bei den Asienspielen in Seoul Gold mit der 4x100-Meter-Staffel. Vorher sagte er heimlich zu mir: "Ich werde wohl eine tolle Leistung bringen. Der Trainer gibt uns jetzt Tabletten."

Der Gewichtheberin Chunlan sind Adamsapfel und Bart gewachsen, nachdem sie zurückgetreten war. Sie machte sich auf die Suche nach guten Schönheitschirurgen. Im August 2006 wurde Shao Huibin, der Direktor der Leichtathletikschule der Provinz Liaoning, angezeigt, weil er seinen Sportlern Dopingmittel hatte verabreichen lassen. Er wurde in seinem Büro mit etlichen verbotenen Substanzen erwischt. Es ging ihm um gute Leistungen bei den Provinzspielen. Als ich in Anshan einen Trainer, der Shao kannte, danach fragte, sagte der: "Was ist das schon? Wir geben Schulkindern auch mal Schmerztabletten, wenn Wettkämpfe zwischen den Schulen stattfinden." Mit Schmerztabletten meint er Compound Aminopyrine Phenacetin, ein stimulierendes Mittel, das die Nieren schädigen kann.

Endlich hat die Regierung nun die Missstände des Sportausbildungssystems erkannt und versucht es zu reformieren. Im September letzten Jahres wurden die "Regelungen zur Anstellung von Sportlern" erlassen. Nun werden sie einbezogen in das Sozialversicherungssystem, der Übergang ins Berufsleben wird subventioniert, und wer Sportler anstellt, kann mit Vergünstigungen rechnen. Zukünftig wird eine chinesische Meisterin ihre hart erkämpften Goldmedaillen wohl nicht mehr auf der Straße feilbieten müssen, um ihrem Kind Milch kaufen zu können. Jedenfalls wenn die neuen Regelungen umgesetzt werden. Aber da bin ich skeptisch. Gerade jetzt, wo für das chinesische Sportministerium nichts wichtiger zu sein scheint, als dass chinesische Sportler möglichst viele Medaillen erringen. Immerhin spürt man einen frischen Wind.

Viele Veränderungen im chinesischen Sportsystem haben indes mit der Einführung der Marktwirtschaft zu tun - und mehr noch mit der Veränderung der nationalen Gemütslage. Chinesen messen heute - anders als vor 20 Jahren - die Stärke ihres Landes nicht mehr an den Erfolgen im Sport. Die wirtschaftliche Entwicklung lässt die Nation selbstsicherer und gelassener werden. Trainer und Sportler haben keine planwirtschaftlich geprägte Denkweise mehr. Basketballspieler Yao Ming und Hürdenläufer Liu Xiang sind da gute Beispiele. Sie sind zwar in einem planwirtschaftlichen System aufgewachsen und ausgebildet, genießen aber viel mehr individuellen Freiraum in Beruf und Leben als Sportler früherer Generationen. Sie haben ein ungeniertes, selbstbewusstes Lächeln.

Das Jahr 2008 könnte ein Wendepunkt für den chinesischen Sport werden. Nach den Olympischen Spielen könnten weitsichtige Chinesen das staatliche Ausbildungssystem für Sportler neu denken, egal wie viele Goldmedaillen China holt. Das Umdenken hat in der Tat schon begonnen. Schließlich kann ein System, bei dem jede Goldmedaille mehrere hundert Millionen Yuan an Steuergeldern kostet, in einer Gesellschaft, in der das individuelle Bewusstsein der Bürger erwacht, auf die Dauer nicht mehr funktionieren.

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