Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Ein Leben in der Schwebe
Ein Jahr nach Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime sind Hunderttausende im In- und Ausland auf der Flucht. In den Lagern in der Türkei schwindet die Hoffnung auf baldige Rückkehr.
ANTAKYA taz | „Wir sagen jeden Monat: Diesen Monat gehen wir zurück nach Syrien. Aber mittlerweile ist es schon ein Jahr und wir sagen immer noch: diesen Monat.“ Die 14-jährige Amar steht auf dem Hof der Al-Bashayer-Schule am Rande Antakyas im Osten der Türkei. Amar und ihre Schulkameraden sind vor den Kämpfen in ihrem Heimatland Syrien in die Türkei geflüchtet.
Manche sind seit einem knappen Jahr hier – und keiner weiß, wie lange sie noch bleiben müssen. „Ich glaube nicht, dass wir zurückkehren können“, entgegnet Amars 13-jährige Freundin Maya, die neben ihr steht. „Assad wird an der Macht bleiben.“
Vor über einem Jahr begann die Revolution in Syrien. Zehntausende Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad. Doch in den vergangenen Monaten hat sich die Revolution in Teilen des Landes zu einem Bürgerkrieg entwickelt. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Die türkische Regierung hat ihre Grenzen für Flüchtlinge geöffnet. Über 17.000 Menschen suchen hier mittlerweile Schutz. Die meisten bleiben nahe der Grenze, um schnell zurückkehren zu können.
Die türkische Regierung duldet sie, erteilt jedoch keine offiziellen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen. Damit leben die Flüchtlinge in der Schwebe – sie können nicht weiter, können aber auch nicht zurück.
Für die Kinder der Al-Bashayer-Schule ist der Spagat zwischen Revolution und Alltag zur Normalität geworden. Etwas abseits von Amar und Maya präsentiert ein Junge, was er übers Wochenende gebastelt hat.
Traumatisierte Kinder
Auf einem Blatt Papier hat er aus Knete die Worte „Nieder mir Baschar! Freiheit, Freiheit!“ geformt. Daneben streiten sich zwei Mädchen: „Was tun wir hier? In Syrien sterben Menschen!“, ruft das erste. „Ja und? Wir sind nicht in Syrien! Wir müssen zur Schule gehen!“
Viele der 150 Schulkinder haben die Kämpfe in ihrer Heimat miterlebt. Viele haben Freunde und Verwandte verloren. „Unser Haus wurde von der Armee zerstört“, sagt Maya und zupft an ihrem grünen Pulli.
Auf der Brust steht mit Strasssteinen „love“ geschrieben. „Die Panzer schossen einfach in die Stadt hinein. Unser Nachbar ging auf die Straße, um Süßigkeiten zu kaufen, und wurde getötet.“
In einer Pause zwischen den Kämpfen stieg Mayas Familie in ihr Auto und floh über die Grenze in die Türkei.
„Do you watch TV?“
„Wenn die Kinder hier ankommen, sind sie traumatisiert“, sagt Englischlehrer Abdul. In seinem Unterricht bringt er den Kindern einfache Sätze bei. Bei der Frage „Do you watch TV?“, platzt es aus den Kindern raus: „Ja! Ja! CNN, BBC, al-Dschasira!“
„Die Kinder sind wie kleine Erwachsene. Sie unterhalten sich über Politik, Krieg und die Revolution“, sagt die 18-jährige Lehrerin Salwan. Sie ist vor den Kämpfen in ihrer Heimatstadt Lattakia geflohen. „Doch wir versuchen, den Kindern ein normales Leben zu bieten. Wir sind jetzt fast ein Jahr hier. Das Leben geht weiter.“
Dabei fühlen sie sich vor allem vom türkischen Premier Reccep Tayyip Erdogan im Stich gelassen. „Die türkische Regierung muss uns endlich vollen Flüchtlingsstatus gewähren“, sagt Salwan.
Ohne Pass in einer Grauszone
„Wir brauchen richtige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen. Viele von uns haben seit ihrer Flucht noch nicht mal einen Pass!“ So lange befinden sie sich in einer Grauzone: Viele reisen alle drei Monate für einen Tag aus, um bei der Wiederkehr ein neues Touristenvisum zu erhalten. Arbeit suchen dürfen sie nicht.
In Salwans Heimatstadt Lattakia machen regimetreue Milizen Jagd auf Oppositionelle. „Ich habe aus Angst unser Haus für einen Monat nicht verlassen. Hätten die Soldaten mich oder meine Schwestern auf der Straße gesehen“, sagt sie und stockt. „Die Soldaten sind sehr schlecht.“
Die Flüchtlingsfamilien in Antakya haben meist Ersparnisse oder Verwandte im Ausland, die Geld schicken. Ansonsten könnten sie sich das Leben in der ungleich teureren Türkei nicht leisten. Die Umgebung gibt den Kindern die Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten.
Wie ein Gefängnis
„Für neu ankommende Kinder sind die ersten drei Monate immer schwer. Doch die tägliche Routine tut ihnen gut“, sagt Salwan.
Im Flüchtlingscamp Reyhanli, 40 Kilometer außerhalb Antakyas, ist die tägliche Routine hingegen für viele eine Tortur. „Wir sind fast am Explodieren. Die Camps sind wie ein Gefängnis“, sagt Ahmed.
Der 26-Jährige ist vor neun Monaten aus der syrischen Armee desertiert. Seitdem lebt er mit seiner Frau hier. „Es gibt nichts, um sich zu beschäftigen. Wir wachen morgens auf und tun den ganzen Tag nichts.“
Das Camp in Reyhanli ist eine von sieben Zeltstädten, die die türkische Regierung gebaut hat. Das Hilfswerk Türkischer Halbmond liefert das Essen.
Nur warten, warten ...
Ahmed und den anderen Flüchtlingen steht es frei, das Camp zu verlassen – doch ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung können sie weder legal arbeiten noch das Land verlassen. „Wir sind seit einem Jahr hier“, sagt Ahmed. „Und wir erwarten noch ein weiteres Jahr.“
Das Camp besteht aus Reihen dichtgedrängter Zelte. Die Wege sind vom Regen ausgewaschen. Scharen von Kindern vollführen Stockduelle. Männer wandern in Zweier- und Dreiergruppen ziellos umher.
Leere Styroportabletts, auf denen das Essen gebracht wird, liegen im Dreck. Eine kleine Halle dient als Gebetsraum, eine andere als Schule. Die Enge ist bedrückend. „Wir sind erschöpft. Manchmal fangen Brüder an wegen der dümmsten Kleinigkeiten zu streiten“, sagt Ahmed. „Ich nehme Drogen, Antidepressiva.“
Losgeschickt zum Töten
Sechs Jahre diente er in der syrischen Armee, zuletzt im berüchtigten Geheimdienst der Luftwaffe. Als die Revolution ausbrach, wurde er in die Stadt Deraa geschickt, um Proteste niederzuschlagen.
„Sie sagten uns, dass es bewaffnete Gangs wären. Wir wussten nicht, was vor sich ging. Wir nahmen viele Menschen auf der Demonstration fest. Später haben wir sie alle getötet“, sagt Ahmed. „Als ich das nächste Mal auf eine Demonstration geschickt wurde, bin ich desertiert.“
Wie fast alle jungen Männer hier will er zurück und gegen Assad kämpfen. Viele wollen Rache für getötete Verwandte und Freunde. Doch dafür fehlt ihnen das Geld.
Kein Geld, keine Waffen
„Eine Patrone kostet mehrere Dollar. Wir haben kein Geld, wir haben keine Waffen“, sagt Ahmed. Stattdessen stehen viele der tatendurstigen Männer in kleinen Gruppen vor dem Camp und suchen vergeblich nach einer Beschäftigung.
Die Eingangskontrollen sind lax, man kommt leicht herein, und so kursieren hier unablässig Gerüchte über Spione des Regimes. Misstrauen liegt in der Luft.
„Wir haben Angst. Wir können im Camp nicht offen sprechen. Vor allem die, die noch Familie in Syrien haben, halten ihren Mund“, sagt Ahmed. Wie angespannt die Situation ist, zeigt sich, als ein Mob junger Männer den Dolmetscher des Reporters, Hisham, umzingelt. „Du bist ein Verräter! Du bist ein Spion!“, schreien sie.
Kurz zuvor hatte Hisham mit seinem Handy einige Bilder im Camp geschossen und wurde dabei gesehen. Sein Akzent verrät, dass er aus Aleppo stammt. Dort hat es bisher nur wenige Proteste gegen Assad gegeben. Für die Angreifer reicht das als Beweis.
Flucht ins Polizeiauto
„Wir bringen dich um! Wir vergewaltigen deine Schwester!“, brüllen sie und schlagen ihn ins Gesicht. Hisham kann sich in ein nahes Polizeiauto flüchten.
An Hilfe von oppositionellen Gruppen wie dem Syrischen Nationalrat glauben die meisten Flüchtlinge nicht. Zu zerstritten, zu schwach. Auch Unterstützung von außen erwarten sie nicht mehr.
„Die USA und Israel unterstützen uns nicht, denn sie haben Angst um Israels Grenzen. Russland beschützt al-Assad wegen der Waffenexporte und die islamischen Länder wollen nicht, dass die Revolution erfolgreich ist“, sagt Ahmed. „Wenn sie wollten, könnten sie innerhalb einer Stunde al-Assad absetzen.“
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