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Synthese von Greifbarem und Gedachtem

Die Schau „Vertrautheit mit den Dingen“ der bildenden Künstlerin Aenne Biermann in der Pinakothek der Moderne München

Von Annegret Erhard

Leicht verschobene, dynamisierend angeschnittene Bildausschnitte, gekippte Vogelperspektive, das Framing puristisch: Aenne Biermann hat die Ästhetik der Meister des Neuen Sehens unmittelbar verstanden, die Bildsprache der zeitgenössischen Fotografie interpretierte sie Mitte der 1920er Jahre souverän. Und doch ist da etwas, was über die Virtuosität hinausreicht, das dem Lebenswerk der Autodidaktin große Eigenständigkeit verleiht. Eine Intensität, die bis heute wirkt.

In der Ausstellung der Pinakothek der Moderne München sind derzeit gut hundert ihrer Fotografien aus dem Bestand der Stiftung Ann und Jürgen Wilde und weiterer Leihgeber wie des Museums Folkwang Essen und dre Galerie Berinson, Berlin, zu sehen. Dieser komprimierte Querschnitt ist gleichzeitig auch die Quintessenz ihres Schaffens, denn Aenne Biermann ist sehr jung gestorben und ihre Archivbestände sind verschollen, mutmaßlich zerstört.

Auf einem Selbstporträt von 1931 sieht man eine junge, nachdenkliche Frau, die Haare modern im androgynen Garçon-Schnitt der zwanziger Jahre. Da war sie bereits zehn Jahre verheiratet mit dem ebenfalls jüdischen Kaufhausbesitzer Herbert Biermann, lebte mit ihm und den beiden Kindern großbürgerlich im thüringischen Gera. Über die mütterlich-dokumentarische Familienfotografie hinaus erwuchs recht bald das Interesse an einer professionell ausgerichteten Entwicklung ihrer Möglichkeiten und ihres Talents. Sie richtete sich ein Atelier ein, in dem sie selbstständig arbeitete und experimentierte. Sie war offenbar gut vernetzt, die neusachlichen Strömungen waren ihr vertraut, das Bauhaus in Weimar nicht weit. Ihre Bildleistungen, technisch und im Materialgebrauch stets auf der Höhe der Zeit, fielen auf. Gekonnte Lichtregie und Detailschärfe unterstrichen die Plastizität der Sach- und Pflanzenaufnahmen, die Tautropfen auf dem Blatt einer Königskerze werden zum kristallinen Panzer, drei Eier auf diagonal schwarz und weiß geteilter Unterlage werfen ihre Schatten und bilden in Kontrast und Komposition ein abstraktes Ornament.

Biermann interessierte die erweiterte Wahrnehmung der Objekte, sobald sie aus ihrem Kontext und in eine künstlerische Ebene gebracht werden. Anders, als es der neusachliche Impetus jener Zeit nach Jahren des expressiv überfrachteten Pathos fordert, befreit und purifiziert sie nicht, wie man es im ersten Hinsehen vermuten könnte. Sie ergänzt, kommt zu einer visuellen Interpretation, die, wie sie einmal sagte, „die Vertrautheit mit den Dingen“ (so auch der Titel der Ausstellung) fördert. Was sie naturgemäß von distanzierter Neusachlichkeit entfernt. Sentimental und pathetisch wird sie dabei nicht. Nüchtern und präzise, das schon.

Gekonnte Lichtregie und Detailschärfe unterstrichen die Plastizität der Sach- und Pflanzenaufnahmen

Das gilt auch für ihre Porträts, die der Kinder und der Freunde. Von „­Lächelnder Mann“, einem eng beschnittenen, geradezu suggestiven Bildnis, hat sie Ausschnitte, einmal vom Mund, einmal von den Augen, abgezogen, hat die wesentlichen Merkmale des Gesichtsausdrucks fragmentiert, hat den Menschen entpersonalisiert. Was bleibt, ist nun der sezierende Blick der Fotografin. Andererseits (oder deshalb)­ ­erkennt und demonstriert ­Aenne Biermann die Wirkweise trügerischer Wahrnehmung, zeigt sie auf und komponiert experimentell und lautlos mit Doppelbelichtungen die Details eines Flügels. Oder die Sprossen ihres Atelier­fensters durchtrennen derart drastisch den Blick auf den Innenhof und die ­gegenüberliegende Fassade, dass der Eindruck einer Collage entsteht.

Franz Roh, Künstler und einflussreicher Publizist, setzte sich früh für Aen­ne Biermann ein und ermöglichte ihre Teilnahme an wichtigen Fotoausstellungen zusammen mit den etablierten Größen der Zeit. Ihre Arbeiten kamen seiner Definition nach dem „magischen Realismus“, einer Synthese von Greifbarem und Gedachtem, einer surreal ausgerichteten Annäherung an das Wesen im Ding, sehr nah. 1930 erscheint der von Franz Roh besorgte und von dem maßgeblichen Typografen Jan Tschichold gestaltete Bildband „Aenne Biermann. 60 Fotos“.

Aenne Biermann starb im Januar 1933 im Alter von 34 Jahren. Zur gleichen Zeit lief die Ausstellung „The Modern Spirit in Photography“ wo auch Arbeiten von ihr gezeigt wurden. 1938 wird das jüdische Kaufhaus Biermann in Gera arisiert, die Familie emigriert 1939 nach Palästina. Biermanns fotografisches Archiv (wohl mit circa 3.000 Negativen) wird auf dem Weg in Triest konfisziert.

Bis 13. Oktober, Pinakothek der Moderne, München, Di.–So., 10–18 Uhr (Do. bis 20 Uhr)

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