Suizidgefährdete Jugendliche: Raus aus der Sprachlosigkeit
Suizidgefährdete Jugendliche haben mit tief sitzenden Selbstzweifeln zu kämpfen, sagt Monika Remmler vom Verein Neuhland. Der lädt heute zum Info-Tag.
taz: Frau Remmler, Ihr Verein Neuhland hilft Kindern und Jugendlichen, die suizidgefährdet sind. Ist Selbsttötung bei Kindern und Jugendlichen ein unterschätztes Problem?
Monika Remmler: Die zweithäufigste Todesart bei Kindern und Jugendlichen ist die Selbsttötung. Fast jede Woche stirbt ein Kind unter 15 Jahren durch Suizid. Es ist daher tatsächlich ein unterschätztes Problem. Ein regelrechtes Tabuthema. Über Tod und Sterben wird in unserer Gesellschaft nur ungern gesprochen. Es macht Menschen Angst. Und Suizid ist noch mal komplizierter. Wir versuchen daher durch Workshops, Seminare und Infoveranstaltungen aufzuklären und das Gespräch immer wieder auf diese Thematik zu lenken. Denn eine erfolgreiche Suizidprävention funktioniert nur, wenn alle Beteiligten aus der Sprachlosigkeit befreit werden und sich trauen, offen über ihre Ängste und Nöte zu sprechen.
Wie häufig kommt es in Berlin zur Selbsttötung von Kindern und Jugendlichen?
Zum zehnten Mal jährt sich an diesem Dienstag der Welt-Suizid-Präventionstag, der von der Weltgesundheitsorganisation ins Leben gerufen wurde. Die WHO begründet die Ausrufung dieses Aktionstages damit, dass Suizid eines der größten Gesundheitsprobleme der Welt darstelle. Jährlich nehmen sich rund eine Million Menschen das Leben.
Berlin zählte im vergangenen Jahr 331 Suizide. Der Anteil der Selbsttötungen an allen Todesfällen in Berlin lag bei einem Prozent.
Die Beratungsstelle Neuhland lädt heute Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen zu einer Infoveranstaltung ein. Es wird nicht nur über die Suizidgefährdung von jungen Menschen aufgeklärt, sondern auch das Beratungsangebot vorgestellt. 10 bis 13 Uhr, Nikolsburger Platz 6.
Hilfe für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche und ihre Eltern gibt es zudem unter 030-8730111.
Die letzten Zahlen, die uns vorliegen, sind von 2011. Insgesamt gab es in dem Jahr 353 Suizidtote in Berlin, davon waren 20 unter 25 Jahren alt.
Jugendliche sind also durchaus suizidgefährdet.
Ja, Suizidgedanken sind nicht selten im Jugendalter. Viele Jugendliche geraten gerade in der Pubertät immer wieder in Sinnkrisen. Wenn den Jugendlichen die innere Stabilität fehlt, dann fällt es ihnen schwer, wieder aus diesen Krisen hinauszufinden. Dann kommt bei manchen schnell die Frage auf, ob sich das Weiterleben überhaupt lohnt. In den meisten Fällen löst sich das Problem von selbst. Es gibt aber auch Jugendliche, die so unsicher sind, dass sich die Krise zuspitzt und sich Suizidgedanken manifestieren und festsetzen.
Was löst diese Sinnkrisen, diesen Wunsch zu sterben, typischerweise aus?
Die Ursachen für einen Suizid bei Jugendlichen lassen sich eigentlich immer im familiären, im sozialen Umfeld ausmachen. Was nicht heißen soll, dass immer die Eltern schuld sind, das wäre wirklich zu vereinfacht. Letzten Endes läuft es aber immer darauf hinaus, dass die Jugendlichen mit einem tief sitzenden Selbstzweifel zu kämpfen haben, der nicht durch das Umfeld aufgefangen wird.
Wenn Sie die vorliegenden Zahlen vergleichen, gibt es heute mehr oder weniger Suizidfälle bei Jugendlichen als noch vor zehn Jahren?
Ein Trend lässt sich nicht erkennen. Es gibt immer mal wieder Schwankungen, aber im Großen und Ganzen bleiben die Zahlen der Suizide von Jugendlichen seit fast 20 Jahren konstant.
Sind alle gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen betroffen?
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Suizidgefährdung und wirtschaftlichem Background. Jugendliche, die über Selbsttötung nachdenken oder diesen Schritt tatsächlich gehen, sind in jeder gesellschaftlichen Schicht zu finden.
Sind denn generell mehr Frauen oder mehr Männer suizidgefährdet?
Bei Jugendlichen ist es so, dass mindestens zwei Drittel der Suizide auf männliche Jugendliche fallen. Mädchen machen eher Suizidversuche. Die Jungen reden nicht, sondern handeln. Die Mädchen kommen durch den Suizidversuch wenigstens an den Punkt, dass sie anfangen, sich zu öffnen.
Hinter einem Suizid steht also nicht immer der Wunsch zu sterben?
Bei Jugendlichen ist Selbsttötung eigentlich immer ein Hilferuf. Die Jugendlichen wollen nicht sterben, wissen aber keinen anderen Ausweg mehr. Umso wichtiger ist es, in der Prävention zu arbeiten.
Was sind typische Symptome für eine Suizidgefährdung bei Jugendlichen, auf die Eltern achten sollten?
Das Offensichtlichste ist ein Rückzug. Die Jugendlichen brechen sämtliche soziale Kontakte ab und sprechen nicht mehr mit den Eltern. Es kommt häufig zu Extremen. Plötzlich essen die Jugendlichen sehr viel, verlieren sehr schnell an Gewicht oder die Schulnoten stürzen rapide ab. Das Äußere wird vernachlässigt. Solche Dinge.
Was können Eltern tun, um ihren Kindern in dieser Situation zu helfen?
Das Wichtigste ist, das Gespräch zu suchen. Zu sagen, dass man sich Sorgen macht. Man sollte auch ganz konkret nach Suizidgedanken fragen. Über Suizidfantasien zu sprechen entlastet die Jugendlichen. Der nächste Schritt ist, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Monika Remmler, 55, ist ausgebildete Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin. Sie leitet zudem die Beratungsstellen des Vereins Neuhland in Friedrichshain und Wilmersdorf.
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