Südsudan in der Unabhängigkeit: Wenn Richter Clanälteste ersetzen

Der Südsudan ist unabhängig. Aber bei den Nomaden des Nuer-Volks herrscht Ratlosigkeit. Sie befürchten den Verlust der eigenen Traditionen.

Ein Angehöriger der Nuer bei einem Tanzritual. Bild: imago/Friedrich Stark

LEER (SÜDSUDAN) taz | Die alten weisen Männer sitzen auf Plastikstühlen unter einem riesigen Neembaum. Sie sprechen über Regen, Viehdiebe und die Unabhängigkeit. Dann schweigen sie. Nur das Vogelgezwitscher im Baum ist noch zu hören. Ein Esel brüllt in der Ferne. Char Duol seufzt und sagt: "Wir sind verwirrt. Was geschieht mit unserer traditionellen Macht nach der Unabhängigkeit? Keiner erklärt uns etwas. Wir haben keine Ahnung."

Bei den halbnomadischen Nuer, einer der größten Volksgruppen Südsudans, spielen Traditionen und Kühe eine sehr wichtige Rolle. Die traditionelle Strafe für Mord ist fünfzig Kühe, für Vergewaltigung zehn. Bei jedem Urteil bekommen die Clanältesten von dem Vieh einen Anteil. Mord als Rache für Mord ist üblich und kostet dann wieder fünfzig Kühe. "Wenn es hier irgendwann Richter und Polizisten gibt, was wird dann noch von uns erwartet?", fragt sich Koang Ruon und spuckt neben seinen Stuhl.

Leer war einst ein winziges Dorf, aber seit im Südsudan Frieden herrscht, ist der Ort stark gewachsen. Wohl 14.000 Menschen wohnen hier, es gibt Grundschulen, ein Gymnasium, eine Flugpiste, eine Straße in die Provinzhauptstadt Bentiu in den Ölfeldern und einen Radiosender. Aber kaum wirtschaftliche Aktivität. "Die Straße nach Bentiu eignet sich gut für Handelsverkehr. Aber wir Nuer sind zu viel mit Kühen beschäftigt", meint Koang Ruon. Die neue Gewalt im Grenzgebiet zum Norden hat den Handel weiter verringert.

Südsudan wird jetzt zwar frei, aber es ist ein völlig kaputtes Land. Von Entwicklung ist keine Rede, Jahrzehnte des Krieges haben fast alles vernichtet. Die Bevölkerung hofft auf Wunder, aber selbst mit viel Hilfe wird die Regierung wenig zaubern können.

Regionale Bevorzugung befürchtet

"Sobald die Unabhängigkeitsfeier vorbei ist, müssen wir die Regierung bitten, eine Schule für Händler hier zu bauen", sagt Koang Ruon. Aber Char Duol zuckt mit den Schultern. "Es gibt bestimmt noch mehr Regionen, die etwas wollen von der Regierung. Wir können nur hoffen, dass unser Riek Machar sich für uns einsetzt und nicht nur die Dinka-Gebiete Entwicklung bekommen."

Riek Machar ist der mächtigste Nuer-Politiker Sudans. Er kommt ursprünglich selbst aus Leer und ist Vizepräsident in der südsudanesischen Regierung, die ansonsten von Dinka dominiert wird, der größten Volksgruppe des Landes und historischer Kern der regierenden ehemaligen Rebellenarmee SPLA (Sudanesische Volksbefreiungsarmee).

Dinka und Nuer mögen sich nicht besonders. Riek Machar war Mitgründer der SPLA unter ihrem damaligen Führer John Garang, einem Dinka. Beide Männer hatten sehr verschiedene Vorstellungen über die Rebellion und die Zukunft. In den 1990er Jahren verließ Machar mit seinen Nuer-Kämpfern die SPLA und schloss ein Separatabkommen mit der Regierung im Norden. Aber nach einigen Jahren kehrte er, von Khartum enttäuscht, zur SPLA zurück. Südsudans heutiger Präsident Salva Kiir, Nachfolger des verstorbenen Garang, hat zu Riek Machar ein besseres Verhältnis, aber zwischen Dinka und Nuer sind die Spannungen geblieben.

Jahrhundertealte Clankonflikte

In Leer fürchtet Stephen Taker, der junge energische Direktor des humanitären Arms der südsudanesischen Regierung (SSRRC), die Spaltung innerhalb der Bevölkerung. "Nicht nur zwischen Völkern, sondern selbst zwischen Clans von einem Volk gibt es Konflikte, die oft jahrhundertealt sind", sagt er. Dann muss er schweigen, weil nah an seinem Büro ein kleines Flugzeug mit großem Lärm landet.

Die Konflikte zeigen sich nicht nur durch die ständigen Kämpfe zwischen lokalen Milizen und der SPLA, bei denen laut UNO dieses Jahr bereits über 2.000 Menschen umkamen. Sie äußern sich auch in Viehdiebstahl, einer alten Nomadentradition, die wieder zunimmt. "Dabei kommen viele Menschen um. Und nach der Tradition müssen die Toten wieder gerächt werden. So entsteht ein Teufelskreis", erklärt Taker.

Traditionell sorgen dann die Clanältesten für Frieden. Aber jetzt wird kaum noch auf die alten Weisen gehört. Die Jungen haben Schusswaffen und fühlen sich mächtig. Und der Einfluss der Regierung im weit entfernten Juba ist kaum spürbar. "Wenn wir nicht aufpassen, werden wir wie Somalia", warnt Taker. Von der Regierung erwartet er wenig. "Die Minister sitzen dort nur für sich selber. Diejenigen, die stehlen, haben von Kiir und Machar ihre Posten bekommen - nicht weil sie qualifiziert sind, sondern weil sie Freunde, Bekannte oder Familie sind. Die Regierung hat keine Ideen. Wir müssen selbst welche finden."

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