Suche nach Identität: Zeitreise ins jüdische Polen
Vor rund 100 Jahren reiste der Schriftsteller Alfred Döblin nach Warschau, Lublin, Krakau, Lodz. Auch auf der Suche nach seiner jüdischen Identität.
Mit der Bahn eine Zeitreise machen? Noch dazu ins jüdische Polen der 1920er Jahre? Geht das? Ist da nicht seit dem Zweiten Weltkrieg alles kaputt? Ja und nein. Vieles wurde originalgetreu oder im Stil des Realsozialismus wiederaufgebaut. Anderes war nie zerstört. Die sogenannten „Judenstädte“ allerdings, für die sich der Berliner Arzt, Schriftsteller und Journalist Alfred Döblin auf seiner „Reise in Polen“ 1924 ganz besonders interessiert, sucht man heute vergeblich.
Doch mit Döblins Reiseführer in der Hand können Interessierte heute in Geschichte und Gegenwart zugleich unterwegs sein. Die Reiseroute führt von Warschau, Krakau, Lodz und Lublin auch ins „Jerusalem des Nordens“, wie das heute litauische Wilna (Vilnius) oft genannt wird, und in die ehemalige Hauptstadt von Galizien und Lodomerien, dem heute ukrainischen Lemberg (Lviv).
Polen war 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Staat wiedererstanden. Da hatte es 123 Jahre Besatzung durch Preußen, Österreich-Ungarn und Russland hinter sich, zahlreiche Aufstände und blutige Niederlagen. Auf die erste Freude 1918 folgte bald Ernüchterung, denn alle Gesetze der letzten hundert Jahre, die gesamte Verwaltung, die Schulen und Universitäten, selbst Straßen und Bahnlinien mussten auf den neuen Staat, die Zweite Polnische Republik, zugeschnitten werden.
Doch die Operation „Aus drei mach eins“ brachte zunächst vor allem eins hervor – Chaos. Zudem gab es noch ein schwieriges Problem zu lösen: die vielen Völker, die jetzt in einem Staat zusammenleben sollten, mussten erst noch lernen, miteinander auszukommen: Polen, Ukrainer, Juden, Deutsche, Litauer und Belarussen. Nationalitätenkonflikte waren an der Tagesordnung.
Anreise Wenn man in Polen erst mal im richtigen Zug sitzt, ist alles gut. Dann kann man sich zurücklehnen und die Reise genießen. Aber bis zu diesem Moment kann es für AusländerInnen schon mal etwas stressig werden. Dabei ist das Kaufen der Fahrkarte noch das geringste Problem – an den „kasy“ im Bahnhof oder auch im Internet. PKP, die polnische Staatsbahn, arbeitet seit vielen Jahren eng mit der Deutschen Bahn zusammen, so dass man bei fehlenden Sprachkenntnissen die Zugverbindungen in Polen problemlos auf https://www.bahn.de/ suchen kann. Meist funktioniert auch die deutschsprachige Seite der PKP https://rozklad-pkp.pl/de, nur dann leider nicht, wenn auf mehreren Strecken oder Bahnhöfen gebaut wird. Dann muss man mit der polnisch-sprachigen Seite vorliebnehmen https://rozklad-pkp.pl/ oder eben doch zum Schalter gehen. AusländerInnen stehen oft verzweifelt vor den Fahrplänen, auf denen sie den Standort ihres Zuges suchen. Aber auch hier gilt: wenn man einmal weiß, wie es geht, ist es ganz einfach. Der Zug fährt in Polen an einem Bahnsteig ein – „peron“, der zwei Gleise hat – „tor“ oder Plural „tory“ und meist in zwei bis drei Sektoren aufgeteilt ist – „sektor/sektory“. Man muss sich also die drei Zahlen merken und erst mal den „peron“ suchen. Zwar gibt es dort dann oft elektronische Anzeigen, die aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund erst kurz vor der Einfahrt des Zuges aufleuchten.
Das Buch Alfred Döblin,Reise in Polen, München (dtv) 2006, Erstausgabe Berlin (S. Fischer-Verlag) 1925
Als Döblin auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin, dem heutigen Ostbahnhof, auf den Nachtzug nach Warschau wartet, ist ihm mulmig zumute. Denn er will nicht nur das neue Polen kennenlernen, sondern sich vor allem über seine eigene Identität als Jude klarwerden. Ende 1923 hatte es im Berliner Scheunenviertel ein Pogrom gegen die dort lebenden Juden aus Osteuropa gegeben.
Döblin war schockiert – inwiefern betraf der immer virulenter werdende Antisemitismus auch ihn, den deutschassimilierten Juden? Was machte überhaupt einen echten, also nicht assimilierten Juden aus? In Polen lebten in den 1920er Jahren die meisten Juden Europas. Doch auf dem Bahnhof kommen Döblin plötzlich Zweifel: Wird er ohne polnische Sprachkenntnisse im Nachbarland klarkommen?
In Warschau
Die Sprachbarriere ist auch heute oft der Grund dafür, dass eine geplante Reise ins östliche Nachbarland eine leichte Beklommenheit auslöst. Doch die Weltsprache Englisch hat auch in Polen ihren Siegeszug angetreten. Also: keine Angst! Auch an Zugverbindungen mangelt es nicht: Der Berlin-Warschau-Express fährt mehrfach am Tag vom Berliner Hauptbahnhof ab und kommt nach rund sechs Stunden in Warschau an. Besonders empfehlenswert: das Bordrestaurant „Wars“.
Heutige Reisende kommen am Zentralbahnhof direkt neben dem Warschauer Kulturpalast an. Beide Gebäude gab es zu Döblins Zeiten noch nicht. Der gigantische „Palast der Kultur und Wissenschaft“ ist ein „Geschenk Stalins an das Brudervolk der Polen“ und war bei den Warschauern so verhasst, dass sie ihn nach dem Abzug der letzten Sowjetsoldaten in den 1990er Jahren sprengen wollten. Am Ende wurde er jedoch unter Denkmalschutz gestellt, und nun wachsen rund um ihn immer mehr Wolkenkratzer in die Höhe. So soll er irgendwann zumindest optisch aus der Topografie Warschaus verschwinden.
Die wenigsten Reisenden werden wissen, dass der Kulturpalast genau da steht, wo 1940 das einstige „Seuchensperrgebiet“ begann, wie die deutschen Besatzer das Ghetto mitten im Herzen Warschaus nannten. Im Herbst 1924 besuchte Döblin hier noch die quirlige „Judenstadt“ mit ihren mondänen Geschäftsstraßen, Parks und der liberalen Großen Synagoge einerseits und den Gassen voll Morast, Armut und kleinen Betstuben andererseits.
Die meisten sprachen Jiddisch und – da Warschau lange Jahre im russischen Teilungsgebiet lag – auch Russisch. Nur wenige beherrschten das Polnische so gut, dass ihnen der Aufstieg in die polnische Elite gelang. Doch es gab durchaus polnisch-jüdische Zeitungen, weltliche wie religiöse Knaben- und Mädchenschulen, ein sehr reges polnisches Kulturleben, in denen Juden und Jüdinnen ganz selbstverständlich mitwirkten – zumindest bis zur Machtergreifung Hitlers 1933, als die deutschen Arier-Paragraphen auch in Polen Nachahmer fanden.
1939, beim deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen, war jeder dritte Einwohner Warschaus ein Jude oder eine Jüdin – rund 350.000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 1,2 Millionen. Die meisten wohnten im Stadtteil Wola in direkter Nachbarschaft zur historischen Altstadt und auf der anderen Weichselseite, in Praga.
Döblin wohnte im Hotel „Bristol“, das bis heute eines der besten und teuersten Hotels Warschaus ist. Von hier aus unternahm er jeden Tag lange Entdeckungsspaziergänge, traf sich mit Journalisten, Politikern, Literaten, Musikern, mit Polen und Juden – und notierte alles ganz penibel, was ihm erwähnenswert und interessant erschien. Er ließ sich die Parteienstruktur der jungen Republik erklären, die politische Ausrichtung der wichtigsten Zeitungen – und stand dann fassungslos vor der geradezu gewalttätig-großen Alexander-Newski-Kathedrale.
Sie sollte wie später der stalinistische Kulturpalast der Hauptstadt Polens den unauslöschlichen Stempel der Vorherrschaft Moskaus aufdrücken. Doch kaum waren die Statthalter des Zaren und ihre Soldaten weg, begannen die Polen mit dem Abriss dieses Symbols der Russifizierung. Döblin trauert zwar um das schöne Gotteshaus, stimmt letztlich aber den Polen und damit dem Abriss zu. Ein paar Straßen weiter, in der „Judenstadt“, beobachtet er im Schaufenster einer Gänseschlachterei „eine derbe kleine Frau bis an die Ellbogen in Blut“. Sie nimmt eine Gans aus. Er registriert auch „Tapezierer, Bäcker, Metzger, Tandgeschäfte. Ein fliegender Buchhändler mit jiddischen Schriften. Haufen von Kindern.“
Die Geschichte der polnischen Juden
Heute leben in Warschau noch bis zu 3.000 Juden. Anders als die Altstadt und einige Prachtstraßen wurde nach 1945 die vollkommen zerstörte Judenstadt nicht wieder aufgebaut. Hier boomt heute die Warschauer City mit glitzernden Wolkenkratzern aus Glas und Stahl. Seit 2013 lädt Polin, das Geschichtsmuseum der Juden Polens, in seine spektakuräre Ausstellung ein. Es steht direkt gegenüber dem großen Denkmal für die Helden des Ghettoaufstandes 1943.
Nach zwei Wochen fährt Döblin erst mit dem Nachtzug nach Wilna/Vilnius, in die heutige Hauptstadt Litauens, danach über die ostpolnische Stadt Lublin zunächst nach Lemberg/Lviv, das heute in der Ukraine liegt, und schließlich in die südpolnische Kulturmetropole Krakau.
Döblin trifft sich mit zahlreichen Gelehrten, Künstlern und Publizisten, besucht polnische und jüdische Schulen und Universitäten, geht in Kirchen und Synagogen, lässt sich aber auch gerne treiben und macht dabei Zufallsentdeckungen, die er mal ganz penibel, mal scharf kommentierend festhält. Immer wieder steuert er die „Judenstädte“ an, versteht schnell, dass „jüdische Assimilation“ anders als in Westeuropa nicht die Aufgabe der jüdischen Nationalität bedeutet, sondern nur eine kulturelle Annäherung an Polen, Litauer oder Ukrainer. Vielerorts bleiben die Juden aber unter sich, bilden eine ganz eigene Kultur und Tradition aus, was für Döblin aber keine Option ist.
Mit dem Zweiten Weltkrieg, der deutschen und sowjetischen Besatzung sowie der Shoah wurde diese osteuropäisch-jüdische Kultur unwiederbringlich zerstört. Viele Orte bestehen nicht einmal mehr in der Erinnerung fort. Immerhin aber gibt es Zeitzeugnisse wie den Reisebericht von Döblin aus dem Jahr 1925, der sich so aktuell liest, als wäre der Schriftsteller und Journalist erst gestern aus dem Zug in Warschau, Wilna, Lemberg, Lublin oder Krakau getreten.
Im polnischen Manchester
Döblins letzte Station ist Lodz, das polnische Manchester, das erst im 19. und 20. Jahrhundert groß und reich wurde. Die Textilindustrie zwang Polen, Russen, Deutsche und Juden zu einem so engen Zusammenleben, wie es es in keiner anderen Stadt gegeben hatte. Es gibt keine Judenstadt, sondern nur das Armen-Viertel Ballut/Baluty, in dem neben Polen auch viele Juden leben. Andererseits gehört der mit Abstand prächtigste Palast dem Großindustriellen Izrael Poznanski. Neben seiner gigantischen Fabrik ließ er Arbeiterwohnungen bauen, die gemessen am damaligen Standard Vorbildcharakter hatten.
Lodz, die heute nach Warschau, Krakau und Breslau viertgrößte Stadt Polens, wurde im Zweiten Weltkrieg ebenso wenig zerstört wie Krakau, aber in der Nachkriegszeit stark vernachlässigt. Den Kommunisten waren die konservativen Eliten in Krakau genauso ein Dorn im Auge wie die selbstbewussten Textilarbeiterinnen in Lodz, die auch in der Solidarnosc-Zeit lautstark gegen die Kommunistische Partei demonstrierten. Lodz wird seit einigen Jahren Straße für Straße saniert. In einigen Jahren wird die einst heruntergekommene Stadt eine der schönsten Polens sein. Döblin schreibt: „Nun ade. Es gibt dieses Land. Ich weiß es herzlich.“
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