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Subversion ist Information

Die taz sucht neue Wege. Die Pariser Medien 'Libération‘ und 'La Truffe‘ sind weiter und setzen auf Fremdkapital ohne Selbstverwaltung.  ■ VON THIERRY CHERVEL

Am kommenden Montag, einen Tag vor der großen taz-Entscheidung, tritt die Belegschaft von 'Libération‘ zu einer Abstimmung zusammen, bei der sie sich möglicherweise von den letzten Prinzipien der Selbstverwaltung verabschieden wird. Die Leitung des Blattes unter dem charismatischen Direktor Serge July plant ein hundertseitiges Farbmagazin, das der 'Libé‘ samstags beigelegt werden soll. Damit will July den Raum für Anzeigen im Blatt verfünffachen. Was hat das mit Selbstverwaltung zu tun?

Es gibt da ein Problem, genauer: zwei; eins für July, eins für die Belegschaft. Julys Problem: Noch befindet sich die Zeitung mehrheitlich im Besitz der Belegschaft — sie hält 62 Prozent der 'Libération‘-Holding SAIP, während 38 Prozent zur einen Hälfte außenstehenden Aktionären, zur anderen Hälfte großindustriellen Kapitalgebern gehören. Noch muß July also, wenn er eine verlegerische Entscheidung wie die übers Farbmagazin fällen will, die Zustimmung der Belegschaft einholen.

Das Problem der Belegschaft: Wenn sie Julys Plänen zustimmt, hat sie plötzlich nur noch 52 statt 62 Prozent der Holding in Händen. Denn 'Libération‘ macht zwar seit drei Jahren Gewinne — die allerdings in letzter Zeit bescheidener werden —, aber für die Investition in ein buntes Magazin reichen sie bei weitem nicht aus. Die Zeitung müßte Fremdkapital aufnehmen, 43 Millionen Francs (13 Millionen Mark). Dadurch sinkt der Anteil der Belegschaft in der Holding. Die Belegschaft soll am Montag also einem Verlust des eigenen Einflusses aufs Blatt zustimmen.

52 Prozent seien immer noch die Mehrheit, tröstet die Direktion. „Kaum“, antwortet ein skeptisches, aber sehr vorsichtig formuliertes hausinternes Papier des „Comité de surveillance“, das die Interessen der Belegschaft in der Holding vertritt. Aus zwei Gründen läßt sich absehen, daß es beim einmaligen Geldzufluß nicht bleiben wird. Einerseits, so das Papier, „hat sich die Direktion zum Ziel gesetzt, vor dem Ende des Jahrzehnts zu einer der großen europäischen Pressegruppen aufzusteigen. Sie schätzt, daß sich der Finanzbedarf zwischen 1991 und 93 auf etwa hundert Millionen Francs beläuft.“ Soviel kann die Zeitung aus eigenen Kräften nicht aufbieten. Andererseits stellt sich schon beim Farbmagazin das Problem, daß es sich um eine sehr langfristige Investition handelt. Mittelfristig sind Verluste einzukalkulieren, die eine Stützung durch weiteres Geld von außen notwendig machen könnten. Denn der internationale Anzeigenmarkt, auf den July spekuliert, ist seit dem Golfkrieg in eine zusammenbruchsartige Krise gestürzt, auch in Frankreich. „Alarm in der Werbung“, titelt der 'Figaro-Economie‘: „Die Zeit der fetten Kühe ist vorbei, nach der Krise wird alles anders sein.“ Die Zeitung sagt Pleiten in der Werbebranche und bei Medien voraus. Bei 'Libération‘ selbst ist das Anzeigenvolumen innerhalb eines Jahrs um 16 Prozent gesunken.

Schwarze Zahlen und großer Apparat

Ein ein möglicherweise existentieller Sachzwang: Noch sind die Zahlen „nicht schlecht“ ('Libération‘, 13.9.91), paradoxerweise wohl, weil 'Libération‘ noch nicht so stark von Anzeigen abhängt wie andere Zeitungen. Im guten Jahr 1988 betrug das Anzeigenvolumen 122 Millionen Francs, nicht ganz ein Drittel des Gesamtumsatzes. Bei 'Le Monde‘ und 'Figaro‘, deren verkaufte Auflage nicht einmal doppelt so hoch war, lagen die Werbeeinnahmen sechs- bis zehnmal höher. Die Auflage von 'Libération‘ hat sich im letzten Jahr bei 180.000 eingependelt (andere Quellen sprechen von 165.000). Als weitere Einnahmequellen hat 'Libération‘ vierfarbige Sonderausgaben zu Themen wie dem Golfkrieg oder dem mißratenen Putsch in der UdSSR, die zum Teil gute Gewinne abgeworfen haben sollen, sowie den Minitel-Service — Bildschirmtext ist in Frankreich äußerst populär.

Damit muß die Zeitung einen vergleichsweise großen Apparat unterhalten: 380 Mitarbeiter, darunter 220 Redakteure, deren Gehälter je nach Dienstalter und Rang zwischen 10.000 und 25.000 Francs netto liegen. Da 'Libération‘ keinem Medienkonzern angehört, können Verluste nicht anderweitig abgefedert werden. Und der Markt ist flau, die Auflagen vieler französischer Printmedien sinken. Wann soll die Zeitung also investieren, wenn nicht jetzt? Und was soll die Belegschaft anderes tun, als July zuzustimmen? Bei roten Zahlen stellen Geldgeber schärfere Bedingungen. Das hausinterne Papier des Comité de surveillance lenkt am Ende denn auch ein und verlangt einen Minderheitenschutz in Form eines Vetos oder eines speziellen Stimmrechts für die Belegschaft.

„Flucht nach vorn“: die Wende vor 10 Jahren

Julys Vorgehensweise ist nicht neu. Mehr als einmal dürfte er die Zeitung mit seiner „Politik der Flucht nach vorn“ (ein ehemaliger 'Libération‘- Redakteur) gerettet haben, am spektakulärsten vor zehn Jahren, als das Erscheinen der Zeitung für ein paar Monate eingestellt wurde. July verkörpert den extrem schmerzhaften, aber wohl unvermeidlichen Schritt von der Alternativ- zur „richtigen“ Zeitung. 1974 — ein Jahr nach der Gründung — zur Zeitung gekommen, gehörte er schon sehr früh ihren gewählten Leitungsgremien an. Allerdings war damals das Plenum noch allmächtig. In der großen Krise 1980/81 traten July und die anderen Mitglieder des Leitungsgremiums zurück. July drohte mit dem Abgang aus der Zeitung. Die Krise war nicht finanzieller Art — die Auflage war in den späten siebziger Jahren auf achtbare 45.000 gestiegen —, sondern stellte sich als ein Gemisch aus politischen Richtungskämpfen, Projektmüdigkeit, dem Wunsch nach Professionalisierung und dem Sektierertum übriggebliebener Maoisten dar. Eigentlich war die Leitung vom Plenum mit der „Entschlackung“ der Zeitung betraut worden — sie sollte Entlassungen vornehmen, konnte sich damit aber offensichtlich gegen die Widerstände im Projekt nicht durchsetzen. Daher Julys Abgangsdrohung, die von manchen im Nachhinein ein Putsch genannt wurde.

Auf dem historischen Plenum vom 21.Februar 1981, das in der letzten Ausgabe der Zeitung vor der Schließung ausführlich dargestellt ist ('Libération‘, 23.2.81), forderte July von der Vollversammlung, daß er fünfzig bis sechzig Entlassungen vornehmen und die Zeitung nach einer Schließung neu aufbauen dürfe. „J'assume“, sagte er laut Protokoll — „Ich nehme es auf mich“. Eine gerechte Lösung könne es nicht geben. Seine zentralen Maximen für die neue 'Libération‘ waren: „Man muß entschieden modern sein“ (in Abwandlung eines Worts von Rimbaud) und „Die einzige Subversion ist heute Information“, dies „in der Gewißheit, daß wir 'Libération‘ machen, weil wir nicht die geringste Lust haben, Journalisten in einem Presseunternehmen zu sein.“

Die Mehrheit stimmte für Julys Vorschlag. Die Abstimmung war namentlich. Nur die meisten Mitarbeiter der technischen Abteilungen, die gegenüber der Redaktion in der Minderheit waren, enthielten sich der Stimme — sie hatten am ehesten mit Kündigung zu rechnen. In Abschiedsbriefen machten sie ihrer Empörung Luft: „Der Gipfel von Basisdemokratie — die Angestellten ihrer eigenen Entlassung zustimmen zu lassen, damit sich der Boß einen Titel und das Know-how aneignen kann, die die Frucht der Arbeit des ganzen Teams von 'Libération‘ sind“, schrieb die Setzerin Chantal Herrmann, „schockiert, betroffen, schwanger“ ('Libération‘, 23.2. 1981).

Unmittelbar nach der Wahl Mitterrands zum französischen Präsidenten erschien 'Libération‘ in der neuen Aufmachung, mit der sie großen Erfolg hatte. Die Auflage stieg zeitweise über 200.000. Intern schlachtete July eine heilige Kuh nach der anderen. Sehr geschickt öffnete er das Blatt für Werbung. Er hofierte nicht nur die Kunden, sondern richtete eine Redaktion „Communications“ ein, die über Medien und die Werbebranche berichtet. So wurde 'Libération‘ zum Blatt für Insider. Nach und nach schaffte er auch den Einheitslohn ab, und er holte Fremdkapital, dessen Anteil im Laufe der Jahre zusehends stieg. Dabei achtete er allerdings stets sehr genau darauf, daß das Geld branchenfremd blieb. Jedes Mal mußte sich July mit diesen Entscheidungen dem Votum der Belegschaft stellen, jedes Mal regte sich Widerstand, jedes Mal stimmte sie letztlich zu.

Die Wirtschaftszeitschrift 'Entreprendre‘ stellte July im im letzten Jahr als „großen Unternehmer“ dar — aber mit einer Einschränkung: Wirtschaftlich hat es die 'Libération‘ längst nicht so weit gebracht wie 'Repubblica‘ und 'El Pais‘, Zeitungen der gleichen Generation, deren Auflagen drei- bis viermal höher liegen.

'Libération‘, die ohne July heute vielleicht nicht mehr existieren würde, ist heute eine der wichtigsten und immer noch innovativsten Tageszeitungen Europas. Natürlich läßt sich nicht von der Hand weisen, daß sie sich durch die Öffnung zum Markt inhaltlich geglättet hat. Trotzdem ist sie noch fähig zu scharfen Äußerungen. Bewundernswert, wie polemisch und groß sie Giscards Wort von der „Invasion“ der illegalen Einwanderer herausstellte. Es gab nur zwei Elemente auf Seite 1: unten der Aufmachertext über Giscard, darüber ein großes Foto, das einen ganz anderen Artikel im Blattinneren ankündigte und dennoch einen eindeutigen Kommentar zu Giscard abgab — das Bild zeigte ein verhungerndes Kind im Sudan ('Libération‘, 20.9.91). Auch in den darauffolgenden Tagen brachte 'Libération‘ das Thema ganz groß. Bitterböse Kommentare begleiteten die Berichterstattung und machten Giscard zu schaffen. Kein Zweifel, 'Libération‘ ist immer noch links.

Aber leider nicht mehr links im Sinne eines antiautoritären, institutionenkritischen Impulses gegen alle Seiten, klagen Kritiker innerhalb und außerhalb des Hauses. Als Edith Cresson Anfang Juli vor den Kameras von TF 1 in lockerer Sprache ankündigte, illegale Einwanderer von nun ab in einem Charter-Flugdienst heimfliegen zu lassen, reagierte 'Libération‘ verhaltener als bei Giscard: kein sprechender Bild-Text- Bezug auf Seite 1, aber immerhin ein indignierter Kommentar auf Seite 3 ('Libération‘, 9.7.91). Am zweiten Tag, als die Reaktionen folgten, leistete 'Libération‘ zwar getreulich Berichterstattung, enthielt sich aber jedes weiteren eigenen Kommentars. Einem Artikel über die Empörung bei S.O.S-Racisme stellte sie einen Hintergrundbericht über das Problem der illegalen Einwanderung gegenüber. Auf Seite 1 fand sie noch Platz für eine „positive“ Meldung — Mitterrand kündigte eine Amnestie für Strafgefangene an, der alljährliche jour de gloire war nicht fern. Ist 'Libé‘ ein Richtungsblatt geworden? Stagniert darum die Auflage? Wie würde 'Libération‘ mit einem Farbmagazin und einer angestrebten Auflage von 500.000 aussehen?

'La Truffe‘ — Boulevardblatt auf Aktienbasis

„Allzu viele Zeitungen hängen heute von den Gefühlen einer politischen Partei oder dem guten Willen einer Finanzgruppe ab. Resultat: eine einförmige Presse, Informationen ohne Geruch und Geschmack“, schreibt 'La Truffe‘ in einer Nullnummer. Ab Montag will der Trüffel täglich aus der Erde wachsen — Motto: „Das Schicksal der Nationen hängt von ihrer Ernährungsweise ab“ (Anthelme Brillat-Savarin).

Die neue Tageszeitung wird täglich acht sehr großformatige Vierfarbseiten haben und 5 Francs kosten. Die Redaktion besteht aus lauter Profis, die zum Teil von 'Le Monde‘ und 'Libération‘ kommen. Die Artikel sollen kurz sein. Ihrer Selbstdarstellung nach will die Zeitung überall anecken, rechts und links. „'La Truffe‘ wird Ärger machen, stören, gehaßt werden.“ Alle Artikel basieren auf eigener Recherche. Kommentare und Editorials wird es nicht geben.

Zur Geldbeschaffung und langfristigen Wahrung der Unabhängigkeit hat 'La Truffe‘ eine originelle Methode angewandt: Sie hat Aktien ausgegeben, wie vor einiger Zeit schon mit großem Erfolg 'L'Evènement du Jeudi‘, 20.000 Stück zum Preis von 500 Francs. Über die Hälfte davon hat sie schon verkauft. Die Subskription endet Mitte Oktober. Die Kapitaleinlagen, durch die die Aktienausgabe balanciert wird, stammen von Einzelpersonen, die allerdings zum großen Teil aus der Pressebranche kommen.

Ob die Zeitung ab Montag wirklich „stören“ wird, bleibt abzuwarten. Die Nullnummern wirken in ihrer Zusammenstellung noch ziemlich oberflächlich und willkürlich. Ein Artikel über Deutschland steckt voller Fehler. Da die Eigenwerbung von 'La Truffe‘ verspricht, „nicht ein Gramm Werbung“ ins Blatt nehmen zu wollen, läßt sich vermuten, daß vorerst keine Auflage über 100.000 angestrebt wird.

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