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Stuttgart 22, 23, 24 …

Nach langer Zeit trafen sich die Stuttgart-21-Projektpartner wieder im Lenkungskreis. Die Sitzung an einem heißen Julitag verlief frostig. Probleme, Pannen und der Streit ums Geld ließen die Stimmung auf den Gefrierpunkt sinken. Höchstwahrscheinlich fahren die Züge später als geplant durch den Milliardenbahnhof, leicht wahrscheinlich auch noch viel später

von Johanna Henkel-Waidhofer

Gut eineinhalb Jahre nach der Volksabstimmung keucht der S-21-Zug mühsam vor sich hin wie schon lange nicht. Und es braucht keine Faktenschlichtung, um die Verantwortlichen auszumachen. Der Verlauf der Lenkungskreis-Sitzung kurz vor Beginn der Sommerferien offenbart, dass die Deutsche Bahn weder willens ist, ihren Projektpartnern Stadt, Land und Region die Kostensteigerung auf knapp sieben Milliarden Euro mit belastbaren Zahlen plausibel zu machen, noch in der Lage, den selbst verursachten Problemberg entscheidend abzutragen.

All die Streitigkeiten, die Wortgefechte, die Desinformationen drehen sich im Kern nur um eines, darum, wer am Ende welche (Un-)Summen herausrücken muss. Nur zur Erinnerung: Nach den Ursprungsplänen rollen schon seit 2008 die Züge über die acht tiefergelegten Gleise in die unterirdische Station, oben wird fleißig gebaut, der neue Stadtteil ist längst im Entstehen …

Die Realität ist eine ganz andere. Mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit wird Stuttgart 21 nach Einschätzung der DB erst anno 22 fertig. Auf der Pressekonferenz nach der Lenkungskreis-Sitzung am 23. Juli reizte Bahnvorstand Volker Kefer Landesverkehrsminister Winne Hermann mit Halbwahrheiten derart, dass der Grüne aus – eigentlich streng vertraulichen – Dokumenten zitierte: 2022 ist mit ebenjenen 80 Prozent Eintrittswahrscheinlichkeit versehen, 2023 mit 40 und 2024 schon heute immer noch mit 30.

Mindestens 100 Millionen für jedes weitere Jahr Bauzeit

Kein Thema allein für Spezialisten und Liebhaber. Erstens, weil der unselige Hang der Bahn zur Camouflage belegt wird, der sich als roter Faden durch das Projekt zieht, und weil zweitens jedes weitere Jahr Bauzeit mindestens hundert Millionen Euro kostet. Diese Summe jedenfalls hat die Bahn aus „kaufmännischer Vorsicht“, wie Kefer herunterspielte, in die Gesamtrechnung eingestellt. Kein Mathematiker muss sein, wer mehr als eine Ahnung davon bekommen möchte, wie viel Geld allein durch Verzögerungen verschleudert wurde, die die Befürworter so gern den Gegnern anlasten möchten, wiewohl die Bahn sie in allen wesentlichen Teilen auf die eigene Kappe nehmen muss.

Obendrein drängt in diesen Tagen eine neue Schwierigkeit aus der Kulisse: Was tun mit dem Abraum? 2009 ging eine Präsentation im Zuge der Kampagne „Das neue Herz Europas“ von rund vier Millionen Kubikmeter Gestein und Geröll aus, die beim Bau des Durchgangsbahnhofs und der Tunnel anfallen. Über „ein Förderband“ solle es zum Nordbahnhof und von dort mit Güterzügen „zu speziellen Logistikstellen“ transportiert werden, hieß es. Das hochgemute Selbstlob illustriert die Dimension: „Damit werden rund 2.400 LKW-Fahrten pro Tag vermieden.“

In noch einem Punkt verschiebt sich das Kräfteparallelogramm zuungunsten der Bauherrin. Und das keineswegs nur, weil mit dem grünen Stadtoberhaupt ein in der Sache unnachgiebiger und strategisch versierter Projektkritiker mit am Tisch sitzt. Anhaltende Probleme der S-Bahn im Großraum bergen jede Menge Zündstoff. Panne reiht sich an Panne, Ausfälle und Verspätungen sind nicht Ausnahme, sondern Regel, mit erheblichen Auswirkungen auf Regional- und Fernverkehr. Der Präsident der Region, der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete Thomas Bopp, spricht deshalb Klartext wie noch nie und erinnert die Bahn an ihre eigene Projektförderpflicht: Nicht hinnehmbar sei diese Serie. Zwar ist ungeklärt, was davon tatsächlich mit den Vorarbeiten zum Tiefbahnhof zu tun hat, aber: „Da dürfen die Dinge nicht vertuscht werden.“

Vom Verkehrsminister ist bekannt, dass er Kapital aus solchen und anderen Unwuchten schlagen möchte. Ministerpräsident Winfried Kretschmann verweist dagegen gebetsmühlenhaft auf Volksabstimmung und Verträge. Und der OB, der sich mit dem Satz „Mir gäbet nix“ und der Erkenntnis, dass „der Karren an die Wand gefahren ist“, ins Amt eingeführt hat, muss vor einer stabilen Gemeinderatsmehrheit pro Stuttgart 21 (CDU, SPD, FDP, Freie Wähler) agieren. Zugleich allerdings muss sich Kretschmann an einem mehrfach wiederholten öffentlichen Bekenntnis messen lassen: Er werde keine Situation hinnehmen, in der die Baugrube mitten in Stuttgart ausgehoben, die Finanzierung aber nicht gesichert und die normative Kraft des Faktischen – im Klartext: das Erpressungspotenzial der Bahn – immens ist.

Hauptsache S 21 kommt, egal wann

Also lässt das Haus Hermann begutachten, ob eine negative Feststellungsklage einen Ausweg weisen könnte (siehe unten, „Kein Grund zur Klage“). Mit ihr würde im Idealfall gerichtlich geklärt, dass die Bahn Mehrkosten alleine trägt. Kretschmann schloss den Gang vors Gericht, immer den Koalitionsfrieden mit der SPD im Blick, gleich ganz aus – schon vor Abschluss der Prüfung. Wiewohl die unmissverständliche Einschätzung dessen, der aufseiten des Landes den Finanzierungsvertrag unterzeichnet hat, den Geist der Klausel illustriert. O-Ton von Vorvorgänger Günther Oettinger (CDU): „Sprechen heißt nicht zahlen.“

Wenn der Lenkungskreis das nächste Mal zusammentritt, wird darüber konkret zu reden sein. Genauso wie über die so lange angemahnten Auskünfte der Bahn zu Kostenkalkulationen und Mehrkostenursachen auf der Grundlage nachvollziehbarer Quelldaten. Das Datum der Sitzung lässt Spitzfindige aufhorchen, denn erst vor Jahresende soll getagt werden. Und flugs machte in interessierten Befürworterkreisen ein Gerücht die Runde: Die Bahn könnte ja selber auf Zeit spielen, in der Hoffnung auf einen abermaligen Regierungswechsel nach der nächsten Landtagswahl im Frühjahr 2016. Denn CDU und FDP, aber auch Teile der SPD sind bekanntlich wild entschlossen, das Prestigeprojekt nicht am Geld scheitern zu lassen – nach dem Motto, Hauptsache, es kommt überhaupt: 2022, 23, 24 …