■ Stunde Null: Einheitsfrontbäcker und Jazzfreunde
Nach zwei Monaten geht in Berlin die russische Alleinherrschaft ihrem Ende entgegen. Ursprünglich sollten die westlichen Besatzungstruppen bereits am 21. Juni in die Stadt einrücken. Stalin hat aber mit Hinweis auf „die starke Verminung Berlins und die zeitweilige Abwesenheit der zuständigen sowjetischen Oberbefehlshaber“ bei dem amerikanischen Präsidenten Truman einen zweiwöchigen Aufschub erwirkt.
Nikolai Bersarin Foto: Ullstein-Nowosti
Wieder einmal ist der geniale Generalissimus seiner Zeit voraus. Denn kaum daß seine Bitte im Weißen Haus vorliegt, da verunglückt auch schon einer seiner wichtigsten zuständigen Generäle. Am 16. Juni rast Berlins Stadtkommandant Nikolai Erastowitsch Bersarin mit seinem Dienstmotorrad in den Tod. Er hinterläßt eine Frau und zwei Töchter, um die sich aber die Sowjetregierung, so erfahren wir vier Wochen später aus der Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, rührend kümmert. 100.000 Rubel Soforthilfe für die ganze Familie, 2.000 Rubel Witwenrente für Natalia Bersarin und je 1.000 Rubel Unterhalt für die Mädchen Larissa und Irina.
Das Volk, so der Titel des SPD-Blattes, erscheint seit dem 7. Juli und gibt sich alle Mühe, den Einheitsfrontgedanken in die Herzen seiner Leser zu tragen. So feiert bereits die zweite Nummer den KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck als „alten Kämpen“, der seit fünfzig Jahren sein Leben „in den Dienst der deutschen Arbeiterschaft“ stellt. Bei solch prokommunistischer Lobhudelei ist es verwunderlich, daß sich die Sozialdemokraten überhaupt der Mühe unterziehen, eine eigene Zeitung herauszugeben. Schließlich gibt es mit der Deutschen Volkszeitung bereits ein täglich erscheinendes KPD-Organ, das sich ebenfalls bemüht, „alle Kreise der Bevölkerung“ zu erreichen.
Offenbar erfolgreich. So werden die Reporter der Volkszeitung, wie in einer Reportage Anfang Juli zu lesen ist, „beim Bäckermeister Emil Schmalewski mit den Worten begrüßt: ,Eine demokratische antifaschistische Einheitsfront ist auf ganzer Linie zu begrüßen‘“.
Doch erst einmal heißt Berlin die westlichen Siegermächte willkommen. Am 6. Juli meldet die Tägliche Rundschau, daß die englischen und amerikanischen Truppen die „vereinbarten Okkupationszonen“ besetzt haben.
Der Bezirksbürgermeister von Reinickendorf konnte allerdings die Ankunft der neuen Besatzungsmächte nicht abwarten und verbreitete bereits Tage vorher eine interne Dienstanweisung mit dem Zusatz: „Der Kommandant von Reinickendorf, Oberst Pawlenko, hat im Einverständnis des neuen Kommandanten von Reinickendorf, Oberstleutnant der englischen Armee, Herrn Hugo, angeordnet, ...“
Völlig zu Recht erteilte daraufhin Oberst Pawlenko dem deutsch-Reinickendorfer Verwaltungsbeamten einen Verweis wegen „Schleicherei zu den noch nicht eingesetzten Kommandanten“.
Was richtiges Timing ist, beweisen dagegen die Programmgestalter des Berliner Rundfunks. Sie beginnen die Ausstrahlung „englisch-amerikanischer Tanzmusik“ erst am Nachmittag des 6. Juli. Wenige Stunden zuvor wurde an der Siegessäule im Tiergarten der Union Jack gehißt. Und einen Tag später läuft im Radio die ebenfalls neue und nicht minder schleicherische Sendereihe „Stunde des Jazzmusikfreundes“.
Allein die Tägliche Rundschau reagiert auf den Einmarsch der Westalliierten gelassen. Ihre russische Redaktion hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, mit sachlichen Informationen aus dem Sowjetland die Berliner für den östlichen way of life zu erwärmen. So erfahren die Leser der Frontzeitung am 10. Juli, daß bereits ein Jahr nach Inkrafttreten der sowjetischen Mütterhilfe „1.200 russische Frauen mit dem Titel ,Heldenhafte Mutter‘ ausgezeichnet“ wurden und „mehr als 2.000 Mütter großer Familien die Orden ,Ruhm der Mutter‘ und ,Mutterschaft‘ erhielten“. André Meier
wird fortgesetzt
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