Studentenleben in Buenos Aires: Schlamassel des Jahrhunderts

"Leonera - Löwenkäfig", ein Spielfilm des Argentiniers Pablo Trapero, porträtiert eine mordverdächtige Frau, die im Gefängnis ein Kind zur Welt bringt.

Elli Medeiros aus Uruguaya spielt in Traperos Film Leonera die Sofia. Bild: dpa

Eine dekorativ heruntergekommene Glam-Punk-Szene: Nahaufnahme eines weiblichen Drogengesichts mit zu großen Augen, schlafend. Mit der großflächig aufgemalten Schminke mischt sich getrocknetes Blut. Ob dieses Bild fasziniert ist von der süßen Dekadenz, dem Blut des intensiven Lebens oder ob es auf häusliche Gewalt und ein geknechtetes Frauenschicksal hinweisen will, lässt es auch dann noch offen, als langsam das Leben in das Gesicht zurückkehrt. Es scheint normal für unsere Hauptfigur, nach einer Nacht aus Blut und Schminke erst einmal in die Bibliothek zu gehen. Studentenleben in Buenos Aires.

Martina Gusman hat schon einige Filme mit Pablo Trapero zusammen gedreht: als Aufnahmeleiterin, Bühnenbildnerin, Koproduzentin. Schauspielerin war sie erst einmal, und hier gibt sie einen ziemlichen Parforceritt von einer Soloshow. Allerdings ist ihre Darstellungsleistung auch eine, die von der Darstellungsverweigerung lebt.

Diese von Martina Gusman so brillant gegebene Julia Zarate gerät nun nämlich in den Schlamassel des Jahrhunderts. Und es dauert den halben Film, bis man so halbwegs rauskriegt, was sie außer müder Verachtung für eine Welt, die ihr diese Scheiße auferlegt hat, übrighat. Denn selbst für die heroische Genervtheit ist sie nun langsam zu schwach, aber nur Erschöpfung ist es auch nicht, was sie uns anbietet. Sie hegt auch keine innere Überlegenheit in dem Gesicht, das sich so auffällig oft im Weg des Kamerablicks aufhält.

Julia lebte mit zwei Männern, ihrem Freund und dem Freund ihres Freundes. Es ist ihre Wohnung. Der Freund steht dem Freunde näher als ihr, wird angedeutet. Sie wird schwanger. Ob es zu Gewalt und Missbrauch gekommen ist oder dies nur von der Verteidigung ins Feld geführt wird, erfahren wir nicht. An dem besagten blutigen Morgen ist jedenfalls der Boyfriend tot und dessen Freund schwer verletzt. Der Verdacht fällt auf Julia, die sich nun durch unendlich viele schmutzige, aber hell erleuchtete, signalfarben gestrichene Gänge schleppen muss; durch Untersuchungsgefängnisse, Frauenstationen, Spezialabteilungen für schwangere Insassinnen und so fort. Immer gleichgültig, einsilbig, großäugig, resigniert.

Ein Junge wird geboren, und Julia hat in der Gemeinschaft der Gefängnismütter Freundinnen gefunden; mit einer der erfahreneren Frauen führt sie eine Art Ehe. Ihre Situation im Gefängnis stabilisiert sich auf einem herb-herzlichen, wortkargen Niveau. Wir sehen sie jetzt agieren und soziale Rollen bekleiden, während sie wiederholt vor Gericht scheitert. Obwohl sich keiner der überlebenden Beteiligten erinnern kann, was in der fraglichen Nacht geschah.

Pablo Trapero wurde durch einen Film über einen Mann bekannt, den seine Lebensverhältnisse zwingen, für die verhasste Polizei von Buenos Aires zu arbeiten. "El Bonaerense" und sein Regisseur werden zuweilen einem neuen argentinischen Realismus zugerechnet, der es in den letzten Jahren häufiger auch in europäische Kinos geschafft hat. In die deutschen Kinos kam Trapero erstmals mit "Familia Rodante - Reisen auf Argentinisch", einer tragikomischen Familiengeschichte als Roadmovie.

"Leonera - Löwenkäfig" lässt hingegen mögliche Genrezuordnungen hinter sich, weil Elend und Unrecht, die der Hauptfigur geschehen, weder auf eine klassische Gefängnisstory heruntergebrochen werden, noch auf eine feministische oder traditionalistische Variante, die die Kritik zuweilen darin sehen möchte. Deren stärkster Impuls ist es, das langsame Wiedererwachen von Julias Lebensgeistern ihrer Mutterschaft zuzuschreiben. Von der Kraft der Mutterliebe schwärmen Kommentare daher gerne und naturalisieren die nach und nach erwachenden Widerstandsgeister als Effekt eines biologischen Programms. Dabei gibt der Film Hinweise, dass Julia die Selbstaufgabe und die süße Subjektlosigkeit in ihrem früheren Leben auch nicht nur gegen ihre Wünsche akzeptiert hat und sich nun irgendetwas wie ihre eigentliche Bestimmung Bahn brechen könne. Beide Entwürfe haben sich situativ entwickelt.

Irreale Laborsituation

Im Gefängnis herrscht eine erzwungene Entpersonalisierung, verbunden mit der Drohung psychischen Untergangs. Zugleich ist dies eine irreale Laborsituation, in der man von sehr weit weg auf die eigene Lage schauen kann. Die Verantwortung für eine andere Person und sich selbst ist hier eine ebenso verführerische, starke Attraktion, das wird von Anfang an klar, wie draußen eine gewisse Selbstaufgabe, das Sichgehenlassen. Diese Ideen spitzt "Leonera" aber weder zu einer Apologie des Gefängnisses noch zu einem nackten Relativismus zu, dem alle Lebensformen gleichwertig wären. Der Film zeigt sie eher als soziale Programme, die nach und nach eine Person ergreifen können, die sich aber gerade dann (und nur dann), wenn sie sozial einigermaßen integriert ist, auch ganz gegen das Programm entscheiden kann.

Die Synthese aus der frühen Lebensverweigerung und dem beherzten Kampf, der nicht nur ein "Kampf um ihr Kind" ist, wie es eine neobiologistische Mode verstehen will, sehen wir am Ende. Es ist ein Blick auf die vielversprechend passive paraguayanische Pampa, wahrscheinlich das erste Bild einer Landschaft. In ihr kann alles passieren, alles von Neuem ausgehen. Eine große Qualität von "Leonera" ist, wie der Film dieses Lob des Auswegs singt, der ganz anderen Lebenssituation. Er tut das nicht nur, indem er eine Fahrt über einen dumpfen, braunen Fluss auf einer träge tuckernden Fähre als Explosion einer inneren Ruhe inszeniert. Er geht so weit, dass eben vorübergehend auch das Gefängnis - nicht seine brutale, wegschließende Seite, nicht die Kerkergänge und Metalltore, aber doch seine arme, elende, notgedrungen selbst organisierten Lebensformen - als ein solcher anderer Ort erscheint: als Ausweg. Zumindest wird er dies für jemanden, dem ein scheinbefreiter Lifestyle, wie ihn Julia zuvor gelebt zu haben scheint, seinerseits zum Gefängnis aus Gewalt und Irrealität geworden ist. Wie gesagt: vorübergehend.

"Leonera - Löwenkäfig". Regie: Pablo Trapero. Mit Martina Gusman, Elli Medeiros u. a. Argentinien 2008, 113 Min.

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