Streit um Arbeitslosenhilfe: Arbeitslose contra Blüm & Co.
■ Mit windigen Verordnungen und Gesetzesänderungen versucht das Bundesarbeitsministerium seit Jahren, eine kostensparende Praxis zu retten: Die Arbeitslosenhilfe wird für viele um einen fiktiven Unterhaltsbetrag gekürzt. Jetzt zweifelt auch ein Sozialgericht daran, daß das einschlägige Gesetz verfassungsgemäß ist, und legt es in Karlsruhe vor.
Von Vera Gaserow
Hält ein Gericht ein Gesetz [...] für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen [...] und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen“, so heißt es im Artikel 100 des Grundgesetzes, von dem das Aachener Sozialgericht jetzt Gebrauch gemacht hat. Mit einem Vorlagebeschluß an die Karlsruher Verfassungsrichter wollen die Aachener von höchster Instanz klären lassen, was für ArbeitslosenhilfeempfängerInnen seit Jahren ein Ärgernis ist: die rechtliche Grundlage, mit der die Bundesanstalt für Arbeit die Leistungen an EmpfängerInnen von Arbeitslosenhilfe um einen meist nur auf dem Papier stehenden Unterhaltsbetrag von Familienangehörigen kürzt.
Daß ein Gericht, zumal eine untere Instanz, von sich aus das Verfassungsgericht anruft, passiert nicht alle Tage. Ungewöhnlich ist aber auch der Umgang der Arbeitsämter mit ArbeitslosenhilfeempfängerInnen, der zur juristischen Endlosgeschichte geworden ist. Jahrelang hatte die Bundesanstalt für Arbeit ganz unangefochten die Arbeitlosenhilfe um fiktive Unterhaltszahlungen gekürzt. Doch dann erlebte die Nürnberger Behörde im September 1988 eine Art „juristisches Waterloo“: Das Bundessozialgericht erklärte diese Praxis in den meisten Fällen für nichtig.
Kernpunkt des Grundsatzurteils der höchsten Sozialrichter der Nation: Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch sind Familienangehörige nur dann unterhaltspflichtig, wenn sich ihre Verwandten von sich aus ganz und gar nicht finanziell über Wasser halten können. Das trifft aber für viele ArbeitslosenhilfeempfängerInnen gar nicht zu. Sie könnten durchaus eine Arbeit finden, nur dürfen sie dazu von den Arbeitsämtern nicht verdonnert werden. Denn nach dem Arbeitsförderungsgesetz dürfen Arbeitslose nur zu solchen Arbeiten verpflichtet werden, die für sie auch zumutbar sind. So brauchen sie zum Beispiel keine Stelle anzunehmen, die weit unterhalb ihrer Qualifikation liegt. Deshalb, so die Folgerung der Bundessozialrichter, sind die meisten Familienangehörigen auch gar nicht zu Unterhaltszahlungen verpflichtet. Die Arbeitslosen wiederum dürften nicht um einen Betrag geprellt werden, der ihnen von Rechts wegen gar nicht zusteht.
Prozeßlawine und plumpe Reaktion aus Bonn
Dieses Grundsatzurteil löste eine Welle von Prozessen aus. Allerorten klagten Arbeitslose mit Erfolg die volle Leistungszahlung ein und stellten auch noch Rückforderungsansprüche. Das Bonner Arbeitsministerium, oberster Dienstherr über die Arbeitslosenversicherung, geriet in Panik. Mit der heißen Nadel wurde Ende 1988 eine Verordnung gestrickt, die die alte Praxis für Recht erklären sollte. Um aus dem Widerspruch zwischen dem Unterhaltsrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Arbeitslosenrecht herauszukommen, bestimmte das Blüm- Ministerium ganz plump: Arbeitslose, die Unterhaltsansprüche gegenüber Familienangehörigen dadurch verwirken, daß sie nicht zu jedweder Arbeit bereit sind, haben auch ihren Anspruch auf volle Arbeitslosenhilfe verwirkt.
Gleich reihenweise zogen Betroffene dagegen vor Gericht, denn jedwede Arbeit anzunehmen, durfte nach der Zumutbarkeitsverordnung des Arbeitsförderungsgesetzes gar nicht von ihnen verlangt werden. Außerdem seien sie damit gegenüber den Arbeitslosen benachteiligt, die nicht über das „Glück“ wohlhabender Familienangehöriger verfügten. Ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes, argumentierten die Arbeitslosen und erhielten recht: Serienweise kassierten die Sozialgerichte die Bonner Rechtsverordnung und verdonnerten die Nürnberger zur Zahlung.
Um aus der juristischen Klemme zu kommen, bastelte man im Blüm- Ministerium an einem neuen Paragraphen. Heraus kam im Sommer letzten Jahres der Absatz 1 zum Paragraphen 137 des Arbeitsförderungsgesetzes. Nur legte der fast wortgleich in Gesetzesform fest, was vorher als Verordnung schon gescheitert war. Schon während des Gesetzgebungsverfahrens wurden im Rechtsausschuß massive Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses neuen Paragraphen laut. Mehrere Sozialgerichte haben sich inzwischen diesen Zweifeln angeschlossen und die Kürzung der Arbeitslosenhilfe auch auf der neuen Rechtsgrundlage für unrechtmäßig erklärt. Auf der nächsthöheren Ebene, den Landessozialgerichten, gehen die Positionen darüber auseinander. Während einige den neuen Paragraphen abgesegnet haben, artikulierten andere schwerwiegende Bedenken: „Insbesondere volljährige beruflich qualifizierte Arbeitslose mit Verwandten ersten Grades wären durch den Paragraphen 137, Abs.1a wesentlich schlechter gestellt als Arbeitslose ohne solche Verwandte“, urteilten zuletzt die Richter des Hessischen Landessozialgerichts.
Inzwischen lagern auch beim Bundessozialgericht in Kassel etliche Verfahren in dieser Frage. Doch bevor die Kasseler Richter darüber entscheiden, könnte nun, nachdem das Aachener Sozialgericht mit dem Gang nach Karlsruhe die Notbremse gezogen hat, eine Klärung vom Verfassungsgericht kommen. Keine leichten Zeiten für Blüm & Co.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen