Streit der Woche: „Sextäter kalkulieren nicht“
Verhindert der Medienpranger sexuellen Missbrauch? Die Produzentin von „Tatort Internet“ erhofft sich von ihrer Sendung Aufklärungseffekte. Ein Psychiater und ein LKA-Chef widersprechen.
Kurz nachdem die Sendung „Tatort Internet“ zum zweiten Mal auf RTL2 lief, verschwand einer der dort bloßgestellten „Cyber-Groomer“ spurlos. Er tauchte erst am Donnerstag wieder auf. Der Mann hatte sich im Internet mit einem 13-jährigen Mädchen zum Sex verabredet, das sich als Lockvogel herausstellte. Den Geschehnissen folgte eine heftige Diskussion: Dürfen im Dienste des Opferschutzes potenzielle Täter bloßgestellt werden?
Dass nun vor allem über Täterrechte diskutiert wird, verwundert die Produzentin von „Tatort Internet“, Danuta Harrich-Zandberg: „Wir verstehen in keinster Weise die aktuelle Diskussion um die Täter“, schreibt Harrich-Zandberg im „Streit der Woche“ der sonntaz. Ziel der Sendung sei es über Gefahren im Netz aufzuklären. Und das sei – zum Wohle potenzieller Opfer – auch gelungen. Schließlich sei das „Cyber-Grooming“ derzeit eines der medial präsentesten Themen.
Unterstützer findet das Konzept „Tatort Internet“ aber auch außerhalb des direkten Umfeldes von RTL2. Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft sagt: „TV-Formate können flankierend wirken im Sinne der Prävention“. Wendt geht aber noch weiter. Um einen wirkungsvollen Schutz herzustellen, müsse „der rechtliche Rahmen der Polizei erweitert werden“, etwa über die Vorratsdatenspeicherung.
Die kompletten Streitbeiträge und viele weitere Geschichten erscheinen in der sonntaz vom 23./24. Oktober 2010. Ab sofort mit noch mehr Seiten, mehr Reportagen, Interviews und neuen Formaten. Die sonntaz kommt jetzt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo
So wichtig Opferschutz ist, für einige der Diskutanten überschreitet eine öffentliche Bloßstellung von potenziellen Tätern vor allem rechtsstaatliche Grenzen.
Daniel Flachshaar, Mitglied des Bundesvorstandes der Piratenpartei, betont, wie wichtig es sei, über den Schutz vor Sexualstraftätern im Internet aufzuklären. Gerade die Aufklärung gerate bei Sendungen wie „Tatort Internet“ aber in den Hintergrund. Aus kommerziellen Gründen benutzten die Medien ihre Macht um als „Ermittler, Ankläger, Richter und Vollstrecker aufzutreten“. Er betrachte derartige Formate als „Verstoß gegen die Grundsätze des Rechtsstaates“, sagt Flachshaar.
Legende: blau: Kindesmissbrauch (23%) | rot: Sonstiger sex. Missbrauch (8 %) | gelb: Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (27%) | grün: Ausnutzung von sex. Neigung (27%) | grau: Exhibitionistische Handlungen (15%) || Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2009 || Alle Daten gibt es hier zum Download.
Ähnliche Bedenken hegt auch Wolfgang Hertinger, der Direktor des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz. Wo der Schutz potenzieller Opfer verabsolutiert werde, sei die Wahrung der Menschenwürde und die Unschuldsvermutung in Frage gestellt, sagt er. Auch „potenziell gefährliche Personen haben Anspruch auf Wahrung ihrer Menschenwürde“, mahnt Hertinger mit Blick auf die häufig geforderte Veröffentlichung von Adressdaten freigelassener Sexualstraftäter.
Einen anderen Aspekt beleuchtet der Kinderpsychiater Jörg Fegert. Dass ein Medienpranger Straftaten verhindern könnte, bezweifelt er grundsätzlich: „Sexualstraftäter sitzen nicht wie Wirtschaftskriminelle am Schreibtisch und kalkulieren kühl“, betont Fegert. Bei Sextätern stehe die „Triebdynamik“ im Vordergrund. Und gegen diese helfe auch keine Angst vor einem Medienpranger.
Zahl der registrierten Straftaten zwischen 1999 und 2009. || Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2009 || Alle Daten gibt es hier zum Download.
Im Streit der Woche äußern sich außerdem die Vizepräsidentin des Opferverbands gegen-missbrauch e.V., Isabel Brockhöfer, die Kindermodedesignerin Maja Synke Prinzessin von Hohenzollern und der taz-Leser Hauke Laging.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!