Streit der Woche: „Der Wähler erwartet die Lüge“
Müssen Politiker in Wahlkämpfen immer die Wahrheit sagen? Die CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl sagt ja. Kabarettist Mathias Richling hingegen will sogar belogen werden.
![](https://taz.de/picture/189768/14/romney_waehler_dapd.jpg)
„Politiker sollen immer die Wahrheit sagen – nur gibt es keine absolute Wahrheit. Schon gar nicht in der Politik“, schreibt die CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl im „Streit der Woche“ der aktuellen sonntaz. Zwar sollten Politiker ihrer Ansicht nach immer die Wahrheit sagen, aber ein und dieselbe Information könne eben zu ganz unterschiedlichen Bewertungen führen.
Wöhrl verweist auf Henry David Thoreau, der einmal schrieb: „Zur Wahrheit gehören immer zwei – einer, der sie sagt, und einer, der sie versteht.“ Wöhrl ergänzt: „Die Wahrheit ist selten so oder so, meistens ist sie so und so.“ Die sonntaz hatte gefragt, ob Politiker im Wahlkampf immer die Wahrheit sagen müssen.
Der Kabarettist Mathias Richling beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den Höhen und Tiefen der Politik. Seine Antwort fällt dementsprechend klar aus: „Der Wähler erwartet gerade im Wahlkampf die Lüge. Schon,weil sich unser ganzer Staat auf der Lüge aufbaut: Alle haben ein Recht auf Arbeit, alle Menschen sind gleich, jeder hat ein informationelles Selbstbestimmungsrecht – was hat das für einen Wahrheitsgehalt“, fragt Richling.
Den kompletten Streit der Woche lesen Sie an diesem Wochenende in der sonntaz. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Seiner Meinung nach bestehe die Kunst vor allem in der Verfeinerung der Lüge. Richling erinnert an den Bundestagswahlkampf 2005, als Angela Merkel eben nicht gesagt habe, sie würde nach der Wahl keine Erhöhung der Mehrwertsteuer umsetzen, sondern künftig statt 16 Prozent 18 Prozent einführen. „Nach der Wahl waren es dann aber 19. Es war so haarscharf verlogen, dass man es als Wahrheit gelten lassen und dennoch nicht behaupten konnte, man wäre enttäuscht worden, weil man keine Lügen mehr aufgetischt bekommen hätte“, schreibt Richling in der sonntaz.
Glenn Kessler schreibt bei der Washington Post die Kolumne „The Fact Checker“. Er ist darauf spezialisiert, den Wahrheitsgehalt der Äußerungen von Politikern genau zu prüfen. Aussagen bewertet er auf einer Skala von einem bis vier Pinocchios. Drei bis vier Pinocchios, also die eklatantesten Falschaussagen, sollten die Politiker vermeiden, schreibt Kessler, weil dann die Lüge offen zu Tage trete.
Komplett ehrlicher Politiker ist unrealistisch
Ein komplett ehrlicher, wahrhaftiger Politiker sei aber wohl unrealistisch. Wähler sollten Politiker aber für Falschaussagen zur Rechenschaft ziehen und diejenigen belohnen, die auch harte Wahrheiten aussprechen. Das könne das Verhalten von Politikern dauerhaft verändern, schreibt Kessler in der sonntaz.
Werner Dieball trainiert als professioneller Coach unter anderem Manager, Führungskräfte und Politiker in den Bereichen Rhetorik, Körpersprache und Kommunikationswirkung. Ob der Wunsch besteht, dass Politiker die Wahrheit sagen, bezweifelt er: „Ein Politiker, der bei der inflationären Zahl von Rede- und TV-Auftritten im Wahlkampf schonungslos die Wahrheit ausspricht, ist nicht medienkompatibel und damit für die Mehrheit der Bürger unwählbar. Die Folgen seien jedoch häufig austauschbare, weichgespülte Politlaienschauspieler, die verunsichert um die Wette lächelten und sich dann in einer Art „emotionale Käseglocke“ wiederfänden.
Auch Stimme, Körper- und Sprache würden kurzfristig auf Wahlkampfmodus getrimmt werden und der Inszenierung mehr wert gelegt zu werden als auf den Inhalt. „Die Wahrheit und damit auch die Persönlichkeit, bleiben dabei oft auf der Strecke.“
Carmen Dege promoviert derzeit in Politischer Theorie an der Yale University. Sie sagt: „Was immer der Politiker entäußert, ist zunächst nicht Wahrheit oder Lüge, es ist Meinung.“ Wenn alles, was gesagt wird, wahr wäre, würde der Bürger seines mündigen Urteils beraubt werden. Er wäre nicht mehr in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, sondern nur noch jemand, der aus kaum unterscheidbaren Angeboten wählen muss. Bereits Platon habe Politikern das Recht zum Lügen eingeräumt, wenn sie dies im Interesse des Staates täten. „Aus dieser Perspektive ist die Lüge nicht mehr nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit zu befragen, sondern welchen Schichten oder Interessengruppen sie diene oder schade.
Die sonntaz-Frage „Müssen Politiker im Wahlkampf immer die Wahrheit sagen?“ beantwortet außerdem Jürgen Weibler, Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaft an der Fernuniversität Hagen, Gesine Palmer, Religionsphilosophin und Autorin politischer Reden, Udo Röbel, ehemaliger Bild-Chefredakteur und Krimiautor und Uwe Roos, Coach, der die Streitfrage auf der taz-Facebook-Seite kommentierte – in der aktuellen Ausgabe der sonntaz.
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