: Straßen ohne Grund gesperrt
Sophiensäle: Reto Fingers Stück „Fernwärme“ setzt mitten in der Katastrophe an und weiß dann nicht mehr weiter
Disasters can happen. Katastrophen können passieren. Das Programmheft der Sophiensäle zitiert eine Kampagne, mit der die US-amerikanische Federal Emergency Management Agency Kinder auf mögliche Katastrophen vorzubereiten versucht: Disasters can happen, they often happen quickly and without warning. „Hast das gehört?“, fragt Martha in der Uraufführung von Reto Fingers Stück „Fernwärme“ ihren Mann Hans. „Hab’s im Bauch gefühlt“, antwortet er. Ein Knall, ein dumpfer Schlag – „als wäre was in Stücke gerissen“, sagt Martha. Ein Schlag, aber mehr auch nicht.
Dennoch gerät das Leben in der Stadt von jetzt auf gleich aus den Fugen. Straßen werden gesperrt, Busse halten mit verriegelten Türen an, Heerscharen von Polizisten und Rettungssanitätern sind im Einsatz. Eine Explosion? Ein Erdbeben? Ein Anschlag? Das Ausmaß des Vorfalls bleibt unbekannt.
„Fernwärme“ ist ein Reigen von Szenen mit wechselndem Personal, erst im Laufe der Zeit wird klar, dass alle Personen in irgendeiner Weise miteinander zu tun haben: Martha und Hans, ihr Sohn und seine Freundin, das ältere Ehepaar und der Polizist. Sie alle hören den Knall, sie alle werden in ihrer Bewegung gebremst, sie alle erleben die diffuse Bedrohung, disasters can happen without warning. Spätestens seit dem 11. September ist es dieses Bewusstsein, das das öffentliche Leben an vielen Stellen prägt – Reto Finger setzt jetzt mit „Fernwärme“ die Paranoia ins Bild, die sich aus diesem beständigen Gefühl des Bedrohtseins ergibt. In seinem Stück wirkt die Katastrophe wie eine Zentrifuge, die Menschen aus den bestehenden Bindungen heraus in neue Kontakte schleudert, aber nichts ist von Dauer, auch die neuen Kontakte lösen sich alsbald auf und letztlich ist jeder so allein, wie der Polizist, der seit fünf Stunden eine Straßensperre sichert, ohne zu wissen, warum.
In der Inszenierung von Leyla Rabih spielen fünf Schauspieler die zehn Rollen des Stücks, und dass dabei die Kostüm- und Rollenwechsel zwischen den Szenen nicht als Bruch erscheinen, ist der Souveränität zu verdanken, mit der die Schauspieler die Vereinzelung und Verunsicherung, aber auch die Abgestumpftheit und die Gleichgültigkeit jeder einzelnen Figur darstellen. Trotzdem scheint das Stück seltsam ziellos und ebenso diffus wie die Katastrophe, deren Auswirkungen darin dargestellt werden. Nach den ersten Szenen tritt „Fernwärme“ auf der Stelle – die Tatsache, dass die Gefahr so unkonkret bleibt, verhindert jede Entwicklung. Gerade das mag im wirklichen Leben die Bedrohung ausmachen. Im Theater wird so etwas leicht langweilig.
ANNE KRAUME
„Fernwärme“, Sophiensäle, noch bis zum 12. 3., jeweils 20 Uhr