Strafanzeigen gegen belgische AKW: Bürger erhöhen Druck auf Reaktoren
Belgiens AKW sind sicher – sagen die Regierung und der Betreiber. In der Grenzregion beklagen aber viele schwere Mängel bei Tihange und Doel.
Ähnlich sieht das Beate Haupt aus Aachen: „Ich habe Tschernobyl erlebt, ich habe Fukushima erlebt. Vielleicht werde ich nicht mehr Tihange oder Doel mitbekommen, aber was ist mit meiner Tochter und meinen Enkeln?“ An die Hundert Menschen stehen dem Veranstalter zufolge im Hinterhof Schlange – deutlich mehr als in Tongeren oder Namur, wo das Bündnis „Stop Tihange“ ebenfalls zur Aktion aufgerufen hat.
Seit Jahren stehen die beiden Kernkraftwerke Tihange nahe Lüttich und Doel kurz vor der niederländischen Grenze wegen Tausender Haarrisse an den Behältern in der Kritik. 2003 beschloss die belgische Regierung auf Druck der Grünen den Atomausstieg. Seitdem die Partei aber nicht mehr in der Koalition ist, hat sich kaum etwas getan. Anfang April bestätigte die belgische Regierung: Bis spätestens 2025 sollen alle sieben Kernreaktoren abgeschaltet sein.
Doch dagegen sträubt sich die größte Partei im Parlament N-VA. „Die Abschaltung aller Kernkraftwerke bis 2025 kostet die Belgier jährlich zwischen 1 und 1,8 Milliarden Euro zusätzlich“, sagt Andries Gryffroy, Abgeordneter im Flämischen Parlament. Er wirbt für Tihange und Doel: „Erschwinglichkeit, Energiesicherheit, Nachhaltigkeit.“
International anerkannte Sicherheitsmaßstäbe verletzt
15 Jahre nach dem Gesetzesabschluss geben sich die Grünen heute kleinlaut. Auf die Argumente der N-VA haben sie trotz mehrfacher Anfragen keine Antwort. Die Grünen sprechen von Meinungsumfragen, aus den hervorgehen soll, dass eine Mehrheit der Belgier für einen frühzeitigen Atomausstieg ist. Details dazu gibt es auf Nachfrage aber nicht.
Im Vergleich zu den Deutschen nehmen die Belgier ihre Kernkraftwerke und deren Mängel gelassener – mit Ausnahme weniger kleinerer Gruppen. Ende Februar machte zum Beispiel der Stadtrat in Lüttich Schlagzeilen, als er einem Antrag für die sofortige Schließung von Tihange 2 und Doel 3 fast einstimmig zustimmte.
Derweil machen die Grenzregionen und internationale Organisationen weiter mobil gegen die Reaktoren. Tihange 2 verletze international anerkannte Sicherheitsmaßstäbe, so jüngst das Atomexperten-Netzwerk Inrag. Die Herkunft der Risse im Reaktordruckbehälter sei nicht mit ausreichender Sicherheit geklärt. „Ein Reaktorbehälter darf nicht kaputtgehen. Wenn er kaputtgeht, gibt es keine Sicherheitssysteme, die das auffangen“, sagt Wolfgang Renneberg, früherer Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium.
Druck aus Deutschland
Anfang Februar bestätigte die belgische Atomaufsicht (FANC) acht sogenannte „Precursor“-Fälle (deutsch: Vorbote) in Tihange 1 zwischen 2013 und 2015. Ein Sprecher betonte aber, daraus könnten keine Rückschlüsse auf die Sicherheit des Meilers gezogen werden. „Da wird ein Zusammenhang hergestellt, aber es gibt keinen.“
Betreiber Engie Electrabel betont, dass die Wiederinbetriebnahme der beiden vermeintlichen Pannen-Reaktoren nach einer umfangreichen wissenschaftlichen Analyse durch unabhängige Experten genehmigt worden sei. Tihange 2 war nach Entdeckung von Haarrissen 2014 wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet worden, ging aber 2015 wieder ans Netz. Die Risse seien zwar „marginal mechanischen Belastungen“ ausgesetzt, hätten aber „keinen negativen Einfluss auf die strukturelle Unversehrtheit des Reaktorgefäßes“.
Während die Atomkraftwerke weiter Energie produzieren, wird der Druck der Nachbarländer auf Brüssel größer. Im vergangenen Jahr hatte das niederländische Parlament gefordert, vor allem das Pannen-Kraftwerk Tihange so schnell wie möglich zu schließen. Dieses Votum hatte die Regierung auch an Brüssel weiter gegeben. Die Regierung rechne fest damit, dass Belgien die Pannen-Kraftwerke spätestens 2025 schließt.
Auch die Bundesregierung hatte Zweifel an der Sicherheit bei einem möglichen Störfall und bat das Nachbarland, Tihange 2 vorerst vom Netz zu nehmen. Die belgische Atomaufsicht sah aber bisher keinen Grund dafür. Jüngst forderte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) die Abschaltung des Pannen-Reaktors: „Je schneller, desto besser.“ Bislang scheiterte er damit.
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