: Stoff für mehr Ost/West
„We are camera“, das im Thalia unter der Regie von Armin Petras uraufgeführt wurde, bildet den letzten Teil der „Harvest“-Trilogie – aber noch nicht genug seiner Ost/West-Geschichten
von KARIN LIEBE
Happy family auf dem Weg in die Ferien. Die dreijährige Tochter fährt nicht ohne ihren Teddy, der fünfjährige Sohn nur auf dem Sitz hinter dem Vater. Rituale, die schon bald von der Realität überholt werden.
Denn dieser 31. Dezember 1969, der damit beginnt, dass der 38-jährige Biologe Ernst (Peter Moltzen) mit seiner 25-jährigen Frau Paula (Natali Seelig) und den zwei Kindern Sonia (Fritzi Haberlandt) und Mirco (Hans Löw) zum Flughafen fährt, endet mit Ernsts Geständnis, dass er als Spion für den Osten tätig ist. Und dass die als Familienreise nach Finnland angekündigte Fahrt die überstürzte Emigration in die DDR einleitet.
In knapp zwei Dutzend Szenen, die sich als Short Cuts in Vor- und Rückblenden immer wieder rund um die alles entscheidende Silvesternacht 1969 versammeln, erzählt Fritz Kater sehr gekonnt vom Verlust der Heimat, der Liebe, des Familienglücks. Ost/West-Geschichten sind die Spezialität des Dramatikers, der seine Stücke unter seinem richtigen Namen Armin Petras zumeist auch selbst inszeniert.
Schließlich ist seine Biographie selbst eine West-Ost-West-Geschichte: In Westdeutschland geboren, siedelte er mit seiner Familie 1969 in die DDR über, 1987 reiste er wieder in die BRD aus. „We are camera/Jasonmaterial“, das jetzt im Thalia in der Gaußstraße unter der Regie von Armin Petras uraufgeführt wurde, bildet den letzten Teil der „Harvest“-Trilogie, die mit dem Boxerdrama „Fight City.Vineta“ begonnen hat. Für den zweiten Teil, die deutsch-deutschen Storys „Zeit zu lieben Zeit zu sterben“, wurde Fritz Kater bei den Mülheimer Theatertagen zum Dramatiker des Jahres ausgezeichnet.
Wirklich ernst wird es auf der Bühne immer dann, wenn es nicht um Staatsbetrug, sondern um persönlichen Betrug geht. Wenn Ernst seiner Frau gesteht, dass er bereits jahrelang als Spion arbeitet und sie die fortgesetzten Lügen als Mord an ihrer Seele begreift. Doch bevor das Pathos überhand nimmt, greift der Regisseur noch rechtzeitig ein und schafft die gehörige Distanz. Auf der Leinwand läuft dann ein französischer Liebesfilm, in dem eine nackte Schöne ihren Liebhaber nach und nach befragt, ob er diesen und jenen Körperteil schön an ihr findet. „Oui“ lautet seine dahin gehauchte Standardantwort. Synchron fragt Paula ihren Ehemann dasselbe und er antwortet mit ebenso großer Überzeugung.
Aber Liebe hat eben auch viel mit Vertrauen zu tun, und das ist in dieser Silvesternacht passé. Zwar leben Ernst und Paula auch in den siebziger und den achtziger Jahren noch zusammen, wie kurze Szenen aus dem Familienleben „nach der Wende“ zeigen. Doch das sind keine ausgelassenen Glücksmomente mehr wie kurz vor dem Geständnis. „Danach“ – das ist ein alkoholkranker Vater, der keine Tasse mehr ruhig halten kann, den die Tochter ausschimpft, er solle nicht sabbern, und den der Sohn angeekelt im volltrunkenen Zustand aufsammelt.
Eine Wundertüte voller tragischer und komischer, farbiger und origineller Spotlights zaubern Kater/Petras hier aus dem Theaterhut – mit Comicelementen und wunderbar wandlungsfähigen Schauspielern, die in Sekundenschnelle mit ein paar Requisiten und veränderter Mimik um Jahrzehnte altern und wieder zum Kleinkind werden. Das Timing stimmt, der Wechsel zwischen laut/rasant und nachdenklich/poetisch gelingt, und trotzdem fehlt etwas.
Große Fragen bleiben unbeantwortet im Raum stehen: Warum hat Ernst für den Osten spioniert? Und warum verlässt Paula ihren Mann nicht? Stoff genug wäre also noch da – für einen vierten Teil der Ost/West-Geschichten.
Nächste Vorstellungen: 10., 21. und 27. Dezember, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße