Stimme meiner Generation: Lisa will zur Polizei

Arons Bekannte ist 20 und will Polizistin werden, „um Opfern zu helfen“. Arons queerer Freund Kai will die Polizei abschaffen. Und er?

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Von ARON BOKS

taz FUTURZWEI, 30.06.22 | Es ist Samstagmorgen und ich sitze im ICE in Richtung Berlin. In meinem Abteil befindet sich eine Gruppe sturzbetrunkener Teilnehmer eines Junggesellenabschieds und ein Polizeibeamter in Uniform, dessen Anblick mehr Fragen in mir aufwirft als der der grölenden Typen, von denen der werdende Bräutigam ein T-Shirt mit der Aufschrift „Käfighaltung“ trägt.

Alles hatte ja damit angefangen, dass ich meinem Freund Kai in Berlin erzählte, dass Lisa Polizistin werden würde. Lisa ist die Partnerin meines Bruders.

Aron-Boks

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 28, ist taz Panter-Volontärin in der taz-Redaktion.

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und ist seit Oktober 2021 taz Panter Volontärin.

„Sie will Teil einer humaneren Polizei sein, etwas verändern“, sagte ich prophylaktisch.

Er schüttelte den Kopf. „Glaub mir, das ist Quatsch“, sagte er und erzählte von seiner Jugend in Mecklenburg-Vorpommern. Er sei dort als queerer Jugendlicher in der Antifa gewesen und hätte immer wieder erleben müssen, wie Polizist:innen auf Demos lieber seine Leute als die ihm gegenüberstehenden Neonazis niedergeknüppelt hätten.

„Und darum verstehe ich nicht, wieso sich junge Menschen diesem Apparat verschreiben. Denn irgendwo bist du immer Teil davon“, sagte Kai und erklärte mir seinen Wunsch nach „Community-Accountability“, einer „Gemeinschaftsverantwortung.“

Eine verantwortungsvolle Gemeinschaft, in der es keine Polizei braucht

Dieses Konzept baut auf den Zusammenhalt von Menschen in Bezirken, Regionen und vor allem Nachbarschaften, die alltägliche Probleme unter sich klären und auf sich selbst aufpassen würden.

„Und was wäre dann die Aufgabe der Polizei?“, fragte ich.

„Das ist es ja: Die bräuchte es dann nicht mehr.“

„Freund und Helfer! Auch 'ne Molle?“, lallt einer der Junggesellen und schwenkt ein Bier durch die Luft. Der Polizist winkt dankend ab und starrt stur geradeaus. Ich denke an Kais „Community“-Konzept, das die Polizei abschaffen soll. Natürlich würde es seiner Meinung nach immer noch Kräfte brauchen, die sich den wirklich schweren Gewalt- und Gefahrensituationen in unserer Gesellschaft widmen – das wären dann aber Spezialeinheiten, um den Rest würden sich Deeskalationsprofis und überhaupt: die Bürger:innengemeinschaft kümmern. Auf ihre Hilfe müsste ich also hoffen, falls einer dieser Junggesellen es jetzt für folgerichtig hielte, mich anzupöbeln, weil er drei weitere Biere getrunken und sich eingebildet hätte, ich würde ihn mit meinem Blick „provozieren.“

Diese Hilfe funktioniert vielleicht in diesem Zug, vielleicht auch in einer lieben Nachbarschaft im Prenzlauer Berg. Aber sicher nicht in meiner ostdeutschen Heimatprovinz, oder zumindest nicht dort, wo ein Drittel der Bevölkerung antidemokratische Parteien wählt. Aber auch schon in meinem wirklich sehr kleinen Reihenhaus in Berlin-Neukölln macht die „Gemeinschaftsverantwortung“ bei der Nachtruhe Schluss. Meine Nachbar:innen rufen lieber nach 22 Uhr die Polizei, wenn ich eine Party schmeiße oder Herr Möller aus dem obersten Stock wieder liebestraurig Heinz-Rudolf Kunze Lieder in die dunkle Nacht brüllt.

Was tun, wenn den Leuten das Gemeinwohl egal ist?

Es ist ein schöner Gedanke, wie wir uns als Art Hausgemeinschaft in einem Besprechungskreis treffen und vereinbaren, dass solche Dinge künftig zu unterlassen sind oder wir Regeln festlegen, wie wir besser gemeinsam damit leben. Ohne dass wir dafür eine blöde bewaffnete Polizei bräuchten, die aufpassen muss, dass wir uns weniger auf die Nerven gehen oder gar umbringen. Aber auf größerer, ja schon auf Stadtebene wird das schwierig. Denn auch in Berlin-Neukölln gibt es all diese „Benimmregeln“ schon – im Strafgesetzbuch. Trotzdem werden sie ständig gebrochen. Und ich bin mir irgendwie nicht sicher, ob wir die Gangster, die andere Bürger:innen aus Geldnöten abstechen wollen, wieder andere im U-Bahnhof beklauen oder im Park vergewaltigen zum Umdenken bewegen, indem wir ihnen sagen, sie sollen das nun künftig bitte lassen, weil es der Gesellschaft schadet. Und ich weiß nicht, ob ich mich auf Nachbar:innen verlassen will, die mir versichern, „nach dem Rechten zu sehen“, und dass ihnen der Schutz unserer Demokratie – aber ohne bevormundende Polizei – so wichtig ist, dass sie freiwillig durch die Krisenregionen unserer Stadt patrouillieren, trotz ihrer vollgeplanten Arbeitstage. Die Menschen, die dies in der von mir erwähnten ostdeutschen Heimatprovinz Klasse finden, sind meistens auch die, die zu diesem Zweck auch gern mal das eigene Jagdgewehr aus dem Keller holen. Und vor denen habe ich genauso viel Angst wie vor Gangstern in Berlin!

Kurz nach dem Gespräch mit Kai telefonierte ich mit Lisa. Sie ist Anfang 20, lebt in Hamburg, und eigentlich haben alle unserer gemeinsamen Freunde ein kritisches Verhältnis zur Polizei. Und sie führen gute Gründe auf. Die Polizei sei von strukturellem Rassismus, Rechtsextremismus, Gewaltmissbrauch durchsetzt. Trotzdem will Lisa dort arbeiten. Als sie vor Kurzem als Polizistin vereidigt wurde, hielt sie sogar eine Festrede. „Die Vorfreude ‚Mit Blaulicht in die Zukunft' besteht mehr denn je!“, verkündete sie.

Menschen helfen und für Grechtigkeit sorgen

„Hat dich das schlechte Image der Polizei nie abgeschreckt?“, fragte ich sie.

„Nein, Ich träume ja davon, etwas anders zu machen.“

„Wie stellst du dir das vor?“

„Indem ich meine Position hinterfrage. In dem ich mich immer frage, wieso ich eigentlich das mache was ich mache.“

„Aber wieso willst du dann eine Polizistin sein?“

„Um Opfern zu helfen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Voll utopisch vielleicht.“

„Nee, das ist voll der Blödsinn!”, sagte Kai als ich ihm davon erzählte.

„Aber kannst du Lisas Perspektive nicht irgendwie verstehen?“

„Rational irgendwie schon, natürlich. Aber vielleicht will ich sie auch einfach nicht verstehen“, sagte er. „Unsere Generation wurde in eine Welt entlassen, die voll am Arsch ist. Und die Polizei steht nun einmal für das Konservative. Und sorry, da verstehe ich nicht, wieso man sich auf deren Seite begibt und nicht den Mut hat für ein neues System zu kämpfen. Es ist doch eh alles egal, irgendwie. Wieso also nicht etwas ausprobieren?”

Ein weißer Cis-Mann hat selten Probleme mit der Polizei

Ich weiß es nicht. Ich hatte mir diese Fragen noch nie gestellt und mit der Polizei noch nie ein Problem. Und sehr wahrscheinlich liegt es daran, dass ich weiß und im Gegensatz zu vielen meiner Bubble weder linksradikal noch offen schwul bin und wenn ich meinen 80er-Jahre-Schnurrbart abrasiere, werde ich nicht einmal mehr am Flughafen auf Drogen kontrolliert.

Erst neulich habe ich einem Polizisten erklären müssen, mein Auto nur deswegen ins absolute Halteverbot gestellt zu haben, da ich „arg im Stress“ gewesen sei. Und als er meine Personalien aufnahm, entfernte ich mich mit großer Geste vom Tatort, um gut sichtbar ein umgestürztes Fahrrad wieder aufzustellen. Wäre ich nicht weiß, hätte er mich vermutlich festgesetzt. In den USA oder Sachsen-Anhalt vielleicht sogar angeschossen. Ich hingegen bekam gerade wegen meiner Aufräumaktion keine Strafe. „Ich lass ihnen das nochmal durchgehen“, sagte er und zwinkerte mir zu.

„Entschuldigung? Geht das vielleicht auch ein bisschen leiser?“, sage ich zu einem der Junggesellen, der gerade den Refrain von Roland Kaisers „Ich glaub es geht schon wieder los“ lallt.

„Mach dich locker! Wir haben hier doch nur n‘ bisschen Spaß.“

Ich sehe auf den Polizisten, der immer noch vor sich hinstarrt.

Eins ist klar, denke ich. Sollte es ihn tatsächlich nicht mehr brauchen, wird es weiterhin Spießer wie mich geben. Nur werden sie es sein, die es schwer haben. Spätestens nach 22 Uhr.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.

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