Stigma Übergewicht: Ein paar fette Klischees
Eine Studie zeigt, wie erschreckend schlecht die Meinung der Deutschen über übergewichtige Menschen ist. Wenige wissen, dass Dicke an ihrem Schicksal meist nicht selbst schuld sind.
Sie gelten als faul, willensschwach und nicht sehr klug. Für die Pfunde, die reichlich auf ihren Hüften lagern, seien sie selbst verantwortlich. Sie müssten ja nur ein wenig Maß halten am Mittagstisch, öfter mal radeln oder joggen. Solchen Stereotypen begegnen Übergewichtige häufiger als vermutet, fanden jetzt Wissenschaftler der Uni Marburg heraus.
Die Forscher wollten mit einer repräsentativen Umfrage eine Wissenslücke schließen. Zwar ahnten sie, dass Dicke in Deutschland wenig anerkannt sind. Wie gegenwärtig aber die Vorurteile sind, "hat uns dann doch überrascht", so die Forscher. Fast jeder vierte Befragte äußerte abwertende Einstellungen im Sinne von "Dicke sind faul". Jeder Zweite ist unsicher, ob solche Stereotype nicht vielleicht doch zutreffen. Nur jeder Fünfte lehnt es ab, Dicke pauschal negativ zu beurteilen. Und 85 Prozent glauben, dass stark Übergewichtige im Wesentlichen selbst schuld sind an ihrem Los.
Diese Stigmata sind schon deshalb so ungerecht, weil sie auf einer falschen Annahme fußen: Sie suggerieren, Menschen seien autonome Wächter über ihr Gewicht. Sie reduzieren Abnehmen auf eine Frage der Willensstärke. Es sei nicht bekannt, "wie komplex das Übergewichtsproblem ist", beklagt Jens Ried, Mitglied der Forschergruppe.
Dabei ist die Wissenschaft längst weiter. Sie weiß, dass der Wille nur ein Faktor unter vielen ist, der über Norm- oder Übergewicht bestimmt. Veranlagung, das Lebensumfeld, selbst die Frage, ob man als Säugling gestillt worden ist, können den Körperumfang beeinflussen. Viele Weichen werden früh gestellt. Wer schon als Grundschüler mollig war, kann auch auch als Erwachsener nur schwer ein Normalgewicht halten. Gerade dieser Punkt aber zeigt, wie fragwürdig das Zuweisen individueller Verantwortung ist. Schließlich ist es nicht die Schuld eines Kindes, wenn es Eltern hat, die es lieber mit der Chipstüte vor den Videorekorder setzen als mit dem Kind zum Toben in den Park zu gehen.
Die Stigmatisierung verkennt auch, wie ratlos derzeit die Ärzte der Frage gegenüberstehen, was die Pfunde dauerhaft schwinden lässt. Weder eine fettarme Ernährung noch neuere Methoden wie die fett- und eiweißreiche Atkins-Diät haben sich als optimal erwiesen. Im Grund sei Übergewicht kaum behandelbar, sagt etwa der Kinderarzt Martin Wabitsch.
Dies gilt vor allem für die Form von Übergewicht, die die Fachwelt "adipös" nennt. Von Adipositas sprechen die Forscher ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 - ein Richtwert, ermittelt aus dem Gewicht, geteilt durch die Körpergröße zum Quadrat. Zwar sind die Zusatzpfunde an sich keine Krankheit. Sie erhöhen aber das Risiko, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme oder Arthrose zu erleiden. Nach aktuellen Daten sind 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen und 18 Prozent der Erwachsenen adipös. Zwiespältig sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Medienberichte. Zwar ist es richtig, auf die Gefahren einer immer fülligeren Gesellschaft hinzuweisen. Andererseits verstärkt dies die Tendenz, Dicke als Last für Gesellschaft und Gesundheitssystem anzusehen. Fast vergessen sind die Zeiten, in denen Dicke eher als gemütliche Genießer galten denn als gierig und willensschwach. Die Vorurteile sind so bedenklich, weil sie das Leid der Betroffenen verstärken. Sie ersticken den Versuch, sich nicht auf die Kategorie "dick" reduzieren zu lassen, sich ein Selbstbewusstsein jenseits der gängigen Norm körperlicher Attraktivität aufzubauen.
Womöglich sind es gerade die Medien, die hier gegensteuern könnten. Sie sollten sich nicht allein im Alarmismus über eine verfettende Nation ergehen. Stärker als zuvor sollten sie - jenseits aller Schuldzuweisungen - über die Ursachen der Adipositas berichten.
Dass dies hilfreich sein könnte, legt erneut eine Studie der Uni Marburg nahe. Nachwuchswissenschaftler setzen 130 Studierende vor ein Computerprogramm, dass über die Ursachen des Übergewichts informiert. Das half. Hinterher ließen sich die jungen Leute seltener zu plumpen Vorurteilen hinreißen. Es lohnt sich, über solche Auswege nachzudenken. Wenn Dicksein ohnehin immer alltäglicher wird - dann wird es erst recht wichtig, die alten Stereotype als Fehlurteile zu entlarven.
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