Stichwahl um Präsidentschaft: Steht Brasilien vor dem Rechtsruck?
Brasilien ist in zwei Lager gespalten. Bei der Stichwahl ums Präsidentenamt am Sonntag könnte es für die linke Regierung eng werden.
RIO DE JANEIRO dpa | Brasiliens Mitte-Rechts-Opposition wittert Morgenluft. Nie erschien ihr die Chance so groß, die seit rund zwölf Jahren regierende linke Arbeiterpartei PT aus dem Feld zu schlagen. Entsprechend erbittert läuft der Wahlkampf. Gerüchte, Tiefschläge und Vorwürfe prägen den Schlagabtausch. Es geht am Sonntag um eine Richtungsentscheidung, die auch andere Länder der Region genau verfolgen. Links-Regierungen in Venezuela oder Bolivien käme ein Rechtsruck in der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt nicht gelegen.
Die beiden Kontrahenten wechselten sich in den Umfragen der letzten drei Wochen auf Platz eins ab. Zuletzt schob sich die PT-Kandidatin und Staatschefin Dilma Rousseff (66) mit deutlicherem Abstand vor ihren Herausforderer. Sie käme danach am Sonntag auf 53 bis 54 Prozent. Der zwölf Jahre jüngere frühere Gouverneur des wirtschaftsstarken Bundesstaates Minas Gerais, Aécio Neves, könnte danach mit 46 bis 47 Prozent der gültigen Stimmen rechnen.
Doch lagen die Umfrageinstitute beim ersten Wahlgang am 5. Oktober zum Teil heftig daneben. „Niemals gab es eine so große Chance, die PT zu besiegen“, bemerkte der politische Kommentator der einflussreichen Zeitung O Globo, Merval Pereira, diese Woche.
Beide Kandidaten trafen mehrmals in Live-TV-Duellen aufeinander, die den Zuschauer angesichts der Verbalattacken eher ratlos machten. Rousseff konfrontierte Neves damit, dass er 2011 mit abgelaufenem Führerschein in einer Verkehrskontrolle erwischt worden sei und sich geweigert habe, einen Alkoholtest zu machen.
Neves konterte mit einem Seitenhieb auf Rousseffs Bruder, der zwar in einer Stadtverwaltung angestellt gewesen sei und Geld erhalten habe, aber nie zur Arbeit erschienen sei. Beide bezichtigten sich abwechselnd der Lüge und titulierten sich als leichtfertig. Die meisten Kommentatoren waren sich einig: „Niveau-Alarm“. Programmvorschläge waren eher Mangelware.
Die PT hat kein schriftliches Wahlprogramm
Dabei steht Brasilien vor ernsten Problemen. Das Wirtschaftswachstum dümpelt in diesem Jahr mit vermutlich unter einem Prozent vor sich hin. Dafür kratzt die Inflationsrate am oberen Rand des Zielkorridors von 6,5 Prozent. Die Industrieproduktion ist rückläufig, die Investitionsrate niedrig und der Wechselkurs schwankt. Es besteht Handlungsbedarf, da sind sich beide Lager einig. Doch über die Ursachen der flauen Wirtschaftslage und die Auswege wird gestritten.
Die PT, die nicht einmal ein schriftliches Wahlprogramm vorlegte, setzt auf eine starke Rolle des Staates und auf ihre Sozialpolitik, die auch von der Vereinten Nationen Lob erhielt. Ihre umfangreichen Sozialprogramme holten Millionen Menschen aus der Armut. Das Land konnte von der Welthunger-Landkarte der UN gestrichen werden. Die Mindestlöhne sind gestiegen, die Arbeitslosigkeit ist niedrig. „In den vergangenen 12 Jahren sind wir eine blühendere und gerechtere Gesellschaft geworden“, bilanzierte Rousseffs Kanzleichef und Kampagnenleiter Aloizio Mercadante.
Dagegen ist schwer anzukommen, deswegen verspricht Neves auch die Sozialpolitik der „Petistas“ fortzusetzen. Doch die Gegner unterstellen ihm, die „Bolsa Familia“, die Familiensozialhilfe, die inzwischen 50 Millionen Menschen in Brasilien erreicht, kürzen zu wollen. Neves dementierte das Gerücht immer wieder. Er hofft auf die, die im Vorjahr bei Massenprotesten ihren Unmut über Korruption, Misswirtschaft und desolate Zustände im Gesundheits-, Bildungs- und Transportwesen kundtaten. „Das Land erträgt keine weiteren vier Jahre PT“, ist sich Aécio sicher, der die Wirtschaft vom „absurden Interventionismus“ der PT befreien und so den Aufschwung herbeiführen will.
In einigen linksregierten Nachbarländern hält man von derartigen Konzepten wenig. „Mich besorgt, dass die Rechte auf demokratischem Weg (in Brasilien) wieder an die Macht kommen könnte“, sagte erst kürzlich der wiedergewählte Staatschef Boliviens, Evo Morales.
Auch die Regierungen in Venezuela und Argentinien würden das mit Argwohn sehen. Denn ihnen war die linke Regierung von Rousseff und deren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva stets ein sicherer Garant und Vermittler. Eine Regierung Neves dürfte dagegen auch außenpolitisch einiges auf den Prüfstand stellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen