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Archiv-Artikel

Stetiger Perspektivenwechsel

Eine Liebesgeschichte in Zeiten von AIDS, unterlegt vom stetigen Wissen um die Kranheit: Die Oper „Das Fest im Meer“ des 29-jährigen Jörn Arnecke, eine Auftragsarbeit für die Hamburgische Staatsoper, erlebt heute auf Kampnagel ihre Uraufführung

von DAGMAR PENZLIN

„Heute! Alles!“, singt Ninon in der großen Fest-Szene am Schluss. Die junge Frau hat gerade geheiratet. Sie will das Leben spüren. Denn Ninon weiß, dass sie sterben wird. Bald: Sie ist HIV-positiv.

Die noch tintenfrische Oper Das Fest im Meer, die jetzt – als Kooperation von Staatsoper und Kampnagel – auf Kampnagel aufgeführt wird, basiert auf dem Roman To the wedding von John Berger. Dass hier eine Frau als HIV-Infizierte im Mittelpunkt steht, eine Frau, die so gar nicht den üblichen Risikogruppen zuzurechnen ist, das hat den Komponisten berührt. Das Thema AIDS schieben viele weit von sich. Gerade deshalb war es Jörn Arnecke wichtig, eine Musik zu schreiben, die die Distanz zwischen Handlung und Publikum auflöst: Fast die Hälfte der Musiker ist im Raum verteilt, die Zuhörer werden unweigerlich in das Geschehen hineingezogen. Das Orchester hat der 29-jährige Komponist vor allem mit dunkel klingenden Instrumenten besetzt, Geigen fehlen völlig. Schließlich bestimmt das Wissen um eine todbringende Krankheit die Geschichte.

Besonders wichtig war Arnecke, den einzelnen Figuren eine unverwechselbare Musiksprache zu geben. Ninon stattete er beispielsweise mit Gesangslinien aus, die eine starke Lichtwirkung besitzen. Der Komponist, Absolvent der Hamburger Musikhochschule, hat auch einige Zeit in Paris bei Gérard Grisey studiert. Der Franzose gehörte zu jener Gruppe von Komponisten, die die so genannte Musique spectrale entwickelt haben. Das vordergründig Unhörbare in der Musik: die Teiltöne beim Ein- und Ausschwingungsvorgang, das dynamische Profil der Klänge, ihre winzigen Schwankungen und Rauheiten, eben auch Geräusche stehen im Zentrum der spektralen Musik von Grisey und Kollegen. In dieser höchst klangsinnlichen Tradition sieht sich Arnecke.

Ein Jahr hat der Tontüftler mit den blonden Locken an seiner ersten abendfüllenden Oper geschrieben. Die Hamburgische Staatsoper hat ihm dazu den Auftrag erteilt, nachdem er vor zwei Jahren an der ersten Komponisten-Werkstatt der Staatsoper teilgenommen hatte. Den Neutöner-Nachwuchs an die Musiktheater-Praxis heranzuführen, darum geht es Intendant Louwrens Langevoort. Denn viele junge Komponisten wissen zu wenig vom hoch komplexen Opernalltag, von seinem Abläufen, kurz: von dem, worauf es zu achten gilt, soll ein Stück überhaupt aufführbar sein.

Jörn Arnecke hat seine Chance jedenfalls genutzt und den Opernalltag freudig inhaliert: Keine Orchesterprobe hat er verpasst und, wie er erzählt, viel gelernt darüber, „wie Musiker an die Erarbeitung eines Stücks herangehen, was realisierbar ist und was gerade die speziellen Erfordernisse von Musiktheater sind“.

Diesen Aspekt hatte auch Autor Francis Hüsers im Auge, als er sich daranmachte, Bergers postmodern verspielten Roman in einen Operntext zu verwandeln. In engem Kontakt mit Arnecke hat der ausgebildete Literaturwissenschaftler das Libretto geschrieben. Schnell waren sich beide einig, dass Bergers stetiger Wechsel der Erzählperspektiven und vor allem der Zeitebenen auch die Struktur der Oper prägen müsse. In dem Moment etwa, in dem sich Ninon und ihr Geliebter Gino entscheiden, bald zu heiraten, sind ihre Eltern schon unterwegs zur Hochzeit.

Die parallel laufenden Handlungen dem Zuschauer szenisch aufzuschlüsseln, diese Aufgabe hat Regisseur Christoph von Bernuth übernommen. Musikalisch leitet die Aufführungen der erst 23-jährige Cornelius Meister. Neben bewährten Sängern gehören mit Moritz Gogg und Maite Beaumont auch zwei Nachwuchskräfte aus dem Internationalen Opernstudio der Staatsoper zum Ensemble der Uraufführungsproduktion. Mezzosopranistin Beaumont ließ bereits in mehreren großen Rollen ausdrucksstark und mit dunkel glühendem Ton aufhorchen. In der Rolle der Ninon kann man sich die Spanierin gut vorstellen. Ihr wird man das sicherlich abnehmen, dieses „Heute! Alles!“.

Premiere: heute, weitere Vorstellungen: 19., 21., 22., 24., 26. Juni, jeweils 19 Uhr 30 Uhr, Kampnagel (k1)