: Steirische Karibik
■ Heimatklänge: Alfredo Gutierrez und Francisco Ulloa
Das Festival der karibischen Klänge am Tempodrom steht kurz vor einer Back-to-the- Fifties-Explosion, aber nicht als Revival von schmalzgetollten Hound Dogs, Boys named Sue oder Jailhouse-Rockern. Mittelständische Gebrauchtwagenhändler und Versicherungsvertreter erlebten zwischen kaltem Krieg und UFO-Fieber das Feuer eines plötzlich in Mode gekommenen Partytanzes, der da hieß: Merengue. Heute weiß niemand mehr, was es mit diesem legendären Zauberschritt eigentlich auf sich hat. In gut sortierten Kochbüchern steht zumeist das Rezept für eine leckere US- amerikanische Käsesahnetorte namens »Lemon Merengue Pie«, Richard Dreyfuß verführt in »Tin Man« zur Merengue die liebesbedürftige Gattin von Danny de Vito — als Schadenersatz, weil dieser ihm eine Beule in den Wagen gefahren hat —, und Robert Mitchum singt mit verkratzter Stimme, aber von der Merengue berauscht, eine ganze Schallplatte lang Lieder von der Theke und dem Leben der fünfziger Jahre.
Der Tanz in seiner Reinkultur wurde dann zu Zeiten des DDR-Fernsehens mit an Apathie grenzender Wollust per Direktschaltung aus tschechischen oder ungarischen Ballsälen übertragen. Weltmeisterschaften im Formationstanzen versprachen wippende Tütü-Röckchen, zu eng geschnittene Herrentrikots, brathähnchenbraune Häute und fiese, gelbviolette Schminke, die dann für Stunden auf dem Bildschirm flimmerte. — Und mitten in diesem Sommer wirft plötzlich der rhythmische Galoppschritt im 2/4-Takt den schon fest im Sattel sitzenden Innenarchitekten plus physiotherapierender Gattin aus dem gemeinsam eingerichteten Futonbett und treibt sie unruhigen Schrittes in den Hexenkessel des sündigen Volkstanzens an der Kongreßhalle.
Vor Ort gehören zur Merenguemusik von Francisco Ulloa, dem Akkordeonakrobaten aus der Dominikanischen Republik, neben einer Rhythmussektion mit Conga, Handtrommel und Milchtopf, ein durchgedrehter Kontrabassist namens Rafael Peralta Lopez und das fröhlich trötende Saxophon von José Batista. Sie verlieren gar nicht erst viel Zeit damit, sich mit altbewährten Standards warmzuspielen, sondern quetschen von Anfang an, was das Akkordeon hergibt. Die geschickten Finger von Ulloa verwandeln das mechanische Blasebalg in eine geschmeidige rote Handtasche, die er frivol an seinem eigenen Rippenfell reibt. Die aufgeblähte Tasche schnurrt und säuselt zuerst noch sehnsuchtsvoll, doch schon bald kreischt und schreit sie, daß dem Meister, der ihr die Knöpfe drückt, der Schweiß fließt.
Der Rest der Combo mag dem Treiben des Bandleaders in nichts nachstehen. Schon bald hat der Bassist sein Kontra in eine horizontale Lage gebracht und bearbeitet dessen Saiten liebevoll mit den Zähnen. Dann gebietet Ulloa dem wilden Treiben Einhalt und verlangt vom Publikum, ähnliches zu versuchen. Hier und da schwingt sich gekonnt beiläufig eine lateinamerikanisch aufgewachsene Damenhüfte, während von den anwesenden Männerkörpern nur ein erigiertes Hoppeln ausgeht. Sie haben die Sache mit dem Sex wörtlich genommen. Zum Glück verkrampfen die meisten der Herren schon nach wenigen Takten, machen dann schlapp und verschwinden mit hochrotem Kopf an einer der Bierbuden, wo sie bis zum Konzertende Bünde bilden.
Der Auftritt Ulloas fällt erstaunlich kurz aus, vielleicht hat aber auch nur das rasante Tempo dem eigenen Zeitempfinden einen Streich gespielt. Bei Alfredo Gutierrez und seinem neunköpfigen Orchester holt die Wirklichkeit den überdrehten Rausch zurück auf das überschaubare Tanzflächenmaß. Gutierrez spielt Evergreens, zu denen bereits die Eltern das Reisefieber packte. Die Lieder erinnern an völlig ferne und fremde Sentimentalitäten, an Peter Alexander und Gunther Philipp als frivole Transitanten, an das Medium- Terzett in Scheichsmontur. An ein Hotelorchester.
Plötzlich wird auf der Bühne über einen zünftigen Landler gejodelt, als wäre die Merengue endgültig abgeklungen. Die Steiermark grüßt aus der Karibik und gibt zu verstehen, daß ein österreichischer Matrose den Quetschkasten im Seesack mit nach Übersee gebracht haben muß. Auf dem Rückweg wehen noch die letzten Ausläufer des multikulturellen Hoppsassas hinter den Ohren her. Volksfestlich geht es bei einer schrill tönenden Version des Gassenhauers »Guantanamera« zur Sache. Lateinamerika beginnt nicht mehr im solidarischen Kiezbuchladen, sondern am Tauentzien. Daheim lernen die Leut' jetzt Salsatanzen statt Befreiungskampf. Harald Fricke
Alfredo Gutierrez und Francisco Ulloa bis Samstag, jeweils ab 21.30Uhr und am Sonntag um 16Uhr, im Tempodrom umsonst und draußen!
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