Steigende Energiekosten: „Nicht den Kaffee verbieten“
Viele haben Menschen haben Probleme, die steigenden Strompreise zu bezahlen. Eine Initiative berät einkommensschwache Haushalte beim Energiesparen.
BERLIN taz | Plötzlich stand der Mann von Vattenfall vor der Tür. Weil Helene Modersohn* ihre Stromrechnung auch nach der zweiten Mahnung nicht zahlen konnte, wurde ihr kurzerhand der Saft abgedreht. Tagelang saß die Mutter mit ihrem wenige Monate alten Kind in der dunklen Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Erst als Ende des Monats wieder das Arbeitslosengeld floss, konnte Modersohn ihre Schulden begleichen, die Sperre wurde aufgehoben.
Zwischen 600.000 und 800.000 Haushalten wurde wegen versäumter Nachzahlungsfristen im Jahr 2010 zwangsweise der Strom abgestellt, schätzt die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen in einer Hochrechnung. Allein in Berlin habe gegenwärtig jeder zehnte Haushalt Probleme, die steigenden Energiekosten zu decken, vermutet auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen.
Während deshalb eine Gerechtigkeitsdebatte um die Tragbarkeit der Energiewende entbrannt ist, spricht Volker Gustedt von der Aktion Stromspar-Check von einer „Instrumentalisierung der Hartz-IV-Haushalte, um gegen die Erneuerbaren ins Feld zu ziehen.“ Die Zunahme der zwangsweisen Stromabschaltungen seien zwar in der Tat ein soziales Problem, so Gustedt, aber wenn der Strom abgeklemmt werde, sei das eher ein Symptom der allgemeinen Schuldenmisere.
Tatsächlich fehlen verlässliche Erhebungen. Die Stromkonzerne sind erst seit diesem Jahr verpflichtet, die Zahl säumiger Kunden in einer Statistik der Bundesnetzagentur zu bündeln. Der Berliner Verteilnetzbetreiber Vattenfall gibt aber gegenüber der taz an, dass die Zahl der Stromabschaltungen in der Hauptstadt in den letzten drei Jahren konstant bei etwa 19.000 liege, renovierungsbedingte Abschaltungen und mehrfach betroffene Haushalte seien hierbei nicht gesondert aufgeführt.
Langezeitarbeitslose werden Stromsparhelfer
Der Bundesverband der Energieverbraucher beklagt die diffuse Faktenlage seit Jahren und fordert empirische Untersuchungen, die Klarheit über die Hintergründe der Stromabschaltungen schaffen könnten.
Damit es erst gar nicht zur Stromsperre kommt, zeigt die Aktion Stromspar-Check Betroffenen derweil einen Weg aus der Schuldenfalle: „Da muss sich noch was machen lassen“, sagt Michael Grow mit Blick auf die Stromrechnung der sechsköpfigen Familie Hajaj. Grow ist zusammen mit seinem Kollegen Mohammed Khalife für die Aktion Stromspar-Check auf Hausbesuch in der Kreuzberger Düttmann-Siedlung.
Seit Dezember 2008 schulen die Caritas und der Bundesverband der Energie- und Klimaschutzagenturen Langzeitarbeitslose zu Stromsparhelfern, mittlerweile haben über 750 von ihnen bundesweit fast 70.000 einkommensschwache Haushalte beraten.
Herr Hajaj bietet den Stromsparhelfern Tee an, doch weitere Termine warten. Die Akquise über Informationsveranstaltungen in Kieztreffs, mehrsprachige Flyer und Mund-zu-Mund-Propaganda läuft bestens. Ein letzter Schluck Tee, dann beginnt die Bestandsaufnahme: Wie lange brennt das Licht, wie viele Stunden läuft der Fernseher?
„Irgendwann geht's an die Lebensqualität“
Im Flur gähnen leere Fassungen aus der Decke. „Ziemlich düster hier,“ bemerkt Khalife den fehlenden Sonneneinfall. Weil Berlin wegen der hohen Bebauung bundesweit die höchsten Beleuchtungszeiten hat, liegt hier das größte Einsparpotenzial. Bei ihrem zweiten Besuch werden Grow und Khalife ein Stromsparpaket mit Energiesparlampen und Wasserzulaufreglern mitbringen. Die Kosten übernimmt die Initiative.
Viel auszusetzen haben die Stromsparhelfer bei Familie Hajaj nicht, aber es gibt auch andere Fälle: „Wir haben mal zwei riesige alte Kühlschränke auf dem Balkon gefunden. Denen hätte ich am liebsten gesagt, schmeißen Sie das Teil direkt über die Brüstung,“ erinnert sich Grow.
Jeder beratene Haushalt spart im Jahr durchschnittlich 133 Euro an Energie- und Wasserkosten, bilanziert die Initiative. Die Kosten für installierte Geräte amortisieren sich innerhalb weniger Monate. Dass dem Sparen trotzdem Grenzen gesetzt sind, weiß auch Michael Grow: „Den Kaffee wollen wir den Leuten ja nicht verbieten, da geht’s irgendwann an die Lebensqualität.“
Erst letzte Woche habe ein älterer Herr erzählt, er traue sich kaum noch zu duschen, nachdem die Stromsparhelfer ihm erklärt hatten, wie viel Energie sein altmodischer Durchlauferhitzer verbraucht.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“