Steckrüben zu Winnetous. Ein deutsches Geheimnis wird gelüftet von WIGLAF DROSTE:
Wieder einmal sitzen die Deutschen im Eigenbrei aus Kitsch und Jammern: Wie die „soziale Kälte“ so kalt und die Kluft zwischen Ost und West so groß sei. Die Gründe dafür wollen sie nicht wissen. Hier sind sie, trotzdem: In der alten Bundesrepublik kamen die Menschen ohne Eltern zur Welt. Sie wurden in Reagenzgläsern hergestellt. Künftige Stadtbewohner wurden in Fabriken gefertigt, während ländliche Bevölkerung aus dem Boden gewonnen oder nach Hausschlachtungen zusammengeleimt wurde. Der Hesse beispielsweise erblickte das Licht der Welt in Form eines Presssacks.
Ich wurde in Westfalen geboren, als Steckrübe. Davon nichts ahnend wuchs ich auf, denn liebevolle Menschen nahmen sich meiner an und zogen mich groß. Erst als ich volljährig war, lüfteten sie das Geheimnis meiner Geburt: Ich kam vom Acker. Eine Welt brach für mich zusammen. Ich fühlte mich einsam und elend. Dem Unwissenden hatte nichts gefehlt, doch jetzt vermisste ich bitterlich, was zum Menschsein gehört: eine menschliche Herkunft.
Die Steckrübe, die ich war, funkte SOS. Das Universum blieb stumm. Ich stellte fest, dass es allen Bewohnern der Bundesrepublik nicht anders ging, dass die meisten von ihnen ihr Schicksal für ganz selbstverständlich hielten und meine Unruhe darüber überhaupt nicht teilten. Mir war das kein Trost, doch ich lernte, meine Sehnsucht nach außen hin zu verbergen.
Bis 1989 musste ich warten – dann änderte sich schlagartig alles. Die innerdeutsche Grenze öffnete sich. Erstmals traf ich auf Menschen, die auf natürlichem Wege zur Welt gekommen waren, geboren in Freiheit, von glücklichen Müttern an sonnigen FKK-Stränden. Anfangs war ich so neidisch, dass ich alle DDR-Bewohner verfluchte und verspottete: Weil ich nicht glücklich war, durften sie es auch nicht gewesen sein, niemals! Umgekehrt verhielt es sich ähnlich: Viele dieser natürlich geborenen Menschen waren neidisch auf die künstliche Existenz der Bundesdeutschen und empfanden ihre eigene Herkunft als Makel.
Lange durchwanderte ich die Landschaften, die ich selbst als „Fünf Neue Tränensäcke“ verhöhnt hatte. Die Menschen dort waren so anders – so naturbelassen, so edel, so winnetouhaft. Mein Verlangen, einer von ihnen und damit ein Mensch zu sein, steigerte sich ins Unermessliche. Eine junge Frau wies mir den Weg. In ihren Augen fand ich Liebe, in ihren Worten Wahrheit, in ihren langen, schlanken Armen Trost und zwischen ihren Schenkeln: Humanität und Sozialismus.
Plötzlich wusste ich, was zu tun war: Ostdeutsche Menschen, die sich nicht an den Westen verraten und verkauft hatten, würden künstlich hergestellte, aber gutwillige Westdeutsche adoptieren und so zum Licht des wahren Menschseins emporziehen! Der Plan reifte und wurde Gewissheit: Ich würde meine Steckrübenexistenz fortschleudern und das Wagnis Mensch beginnen!
Seitdem bereite ich mich auf den großen Tag vor. Ich stehe in einer Schlange an, nackt natürlich, übe Osten und die ersten Worte meines neuen Lebens: „Hallo, Mutter.“
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