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Stauforschung auf den Berliner Straßen

Der öffentliche Nahverkehr West-Berlins wurde bestreikt, aber den großen Stau gab's in Ost-Berlin/ Hilflose Pendler standen Schlange  ■ Vom Rad U. Scheub&A. Kugler

Wo und wie beginnt eigentlich ein Stau, wann hört er auf? Millionen von AutofahrerInnen, RadlerInnen und FußgängerInnen hatten am Montag die einmalige Chance, dieses auf theoretischer Ebene unerklärbare Phänomen auf Berlins Straßen praktisch zu studieren. Ganz in Ruhe, zwischen leise tuckernden Abgastöpfen. Denn um null Uhr sind rund 15.000 von 17.500 Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in West-Berlin zum ersten Mal seit 18 Jahren in den Streik getreten; rund 3,1 Millionen Menschen, die täglich die U- und S-Bahnen und 1.800 Busse frequentieren, werden nicht befördert. Die überraschende erste Bilanz der radfahrenden StauforscherInnen: Das eigentliche Chaos tobt nicht im Westen, sondern im unbestreikten Osten. Sechs Uhr morgens. Die U-Bahnhöfe sind verrammelt. „Wir streiken“, verkünden schlichte Plakate und schwarze Schiefertafeln mit Kinderschrift, oder auch: „Liebe Reisende! Aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen verkehrt heute keine S-Bahn.“ „Hallo Moni!“, „Bravo!“ — so wird ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies auf dem lahmgelegten Busbetriebsbahnhof im Wedding empfangen. Die Gewerkschaft werde so lange weiterstreiken, verkündet sie kämpferisch, bis die Arbeitgeber ein „realistisches Angebot“ vorlegen. Schließlich hätten diese den Schlichterspruch von 5,4 Prozent mehr Lohn abgelehnt. Und: „Wir müssen uns dagegen wehren, daß die Arbeitnehmer dreifach zur Kasse gebeten werden — Steuern und Abgaben, Preissteigerungen und Lohnverzicht.“

Ergo: Nun stehen die Räder still. Nein, keineswegs alle. Der „Bayernexpreß“ beispielsweise fährt heute zum Rathaus Steglitz und zurück. Der Senat hatte rund 100 Reisebusse für den Notverkehr gekapert. Und die Busspuren mit dazu. Hier dürfen heute ausnahmsweise auch Privatautos fahren. Was die RadfahrerInnen ganz gemein finden. Hocherhobenen Hauptes zuckeln sie die Straßen längs, darunter so mancheR, der seit Jahren nicht mehr auf dem Bike saß. Viele haben sichtlich Mühe, das innere und äußere Gleichgewicht zu halten, dafür aber nagelneue Turnschuhe unterm Herrenanzug.

Jaja, der Westen ist halt gut organisiert. Die einen ziehen Räder aus den Spinnweben ihrer Keller, die anderen sind schon seit Tagen beschäftigt, Fahrgemeinschaften zu organisieren, übers Radio oder in den Betrieben. Zwar registrieren die StauforscherInnen auf allen Hauptstraßen schleichende Fortbewegung, aber das große Chaos, der von interessierten Politikern beschworene Untergang des Abendlandes bleibt aus. Jedenfalls im Westen Berlins.

Im Osten jedoch herrscht bei Sonnenaufgang tatsächlich Weltuntergangsstimmung. Nicht nur die Abgaswolken der Trabis, sondern auch das Phänomen Rückstau bereitet den StauforscherInnen Kopfzerbrechen: Alle Wege gen Westen sind dicht. Die S-Bahnen und Busse kehren vor der unsichtbaren Mauer um. Um sieben Uhr morgens bilden sich Schlangen vor den Telefonzellen auf dem Alexanderplatz. Berufstätige, die vergeblich versuchen, die Chefs von ihrer Verspätung zu informieren.

Auch die Theaterpassage in der Friedrichstraße hat heute schon tagsüber absurdes Theater zu bieten. Hunderte von Frauen, aber gerade mal drei Männer stehen am Taxistand in Reih und Glied. Stumm. Wartend. Brave Opfer männlichen Autowahns: Das familieneigene Auto haben sich ihre Männer unter den Nagel gerissen. Sie selber, meist führerscheinlos, müssen stundenlang warten, bis sie endlich ein teures Taxi zu ihrer Arbeit im Westen trägt. Allerdings sind die meisten seit Tagen ausgebucht — durch Westler. „Was sollen wir machen?“ seufzt eine der Frauen. „Der Chef hat gesagt, wir müssen kommen, egal wie.“ Warum fahren Sie dann nicht mit der Eisenbahn zum Bahnhof Zoo und laufen dann? „Ach, wir kennen uns im Westen doch nicht aus.“

Auch an der Glienicker Brücke, dem Übergang von Potsdam nach Berlin, stehen Frauen an der Bushaltestelle, schauen ratlos nach links und rechts. Selbstverständlich wissen sie, daß im Westen gestreikt wird, die Zeitungen waren ja täglich voll mit Chaos-Warnungen. Doch streikunerfahren, wie die BrandenburgerInnen sind, haben sie nicht geglaubt, daß es auch sie treffen könnte. Und Trampen ist schwierig. Die Fords und Mantas aus Potsdam, meistens mit einem einzigen ungerührten Mann besetzt, rauschen an ihnen vorbei — in den Stau. Ein ähnliches Bild an der letzten S-Bahn- Haltestelle im Osten, Griebnitzsee: Heute ist er ein Sackbahnhof. Es bleibt nur das Umsteigen in die Fernzüge, und die kommen selten.

Und nicht mal mit dem Schiff oder Boot wäre noch ein Durchkommen über Havel und Spree: Auch die Schleusenwärter streiken. Und die Gartenbauer. Und die Leute von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Und die Postler vom Telegrafenamt. Und, am Sonntag schon, die Bühnenarbeiter der Deutschen Oper. Die Wagner-Oper Lohengrin ging nur mit Notlicht über die Bühne. Aber das sei kein schwerer Fall von Triebstau gewesen, befinden die Stauforscherinnen.

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