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■ StandbildStörfall

„Die Zeit, die mir noch bleibt“, Mi., 21.45Uhr, ARD

Sieben Jahre nach Tschernobyl hat der russische Atomphysiker Wladimir Tschernousenko noch drei Jahre zu leben. Er war einer der Wissenschaftler, die vor Ort das Ausmaß der Katastrophe begrenzen sollten. Während er und viele andere Verstrahlte auf ihren Tod warten, kümmert sich die politische Seite vor allem um die Verschleierung des wahren Ausmaßes der Katastrophe.

Doch Tschernousenko war nicht ahnungslos. Er ist – und das macht den Film interessant – ein Überläufer. Erst die Katastrophe und das eigene Schicksal haben ihn zum Atomgegner werden lassen. Er ist, so wird im Kommentar immer wieder betont, ein von der Atomindustrie gefürchteter Mann: Tschernousenko weiß zuviel, redet zuviel und hat nichts mehr zu verlieren.

Wir erfahren von ihm, daß bereits 1982 bei einem Störfall in Tschernobyl Radioaktivität ausgetreten ist, daß fast ganz Weißrußland verseucht ist, daß 126mal mehr Strahlung als offiziell zugegeben in die Atmosphäre gelangte, daß diese Strahlungsmenge die Bomben auf Nagasaki und Hiroshima übertrifft... Tschernousenko nutzt seine verbleibende Zeit dazu, diese Tatsachen publik zu machen. Talk-Shows, Bücher, Vorträge und jetzt der Film stemmen sich gegen die kurze Halbwertszeit der menschlichen Erinnerung. Von unserem Vergessen profitiert „die internationale Atommafia“, wie der Wissenschaftler seine Gegner nennt.

Die „Mafia“ blieb allerdings im Verborgenen. Vielleicht war das dramaturgisch für den Aufbau von Verschwörungstheorien im Film förderlich; doch die Glaubwürdigkeit des Physikers hätte es noch unterstützt, wenn auch die Gegenseite mal befragt worden wäre. Zugegeben, der Film nennt sich „Portrait“, und Tschernousenko muß daher viel diskutieren, demonstrieren, spazierengehen und einkaufen. Doch die Antagonisten waren mit dem verharmlosenden Sprecher der Atombehörde und Reaktorsicherheitsminister Töpfer unterrepräsentiert. Töpfer hatte Tschernousenko vor eineinhalb Jahren in einer Talkshow die Zusammenarbeit angeboten. Passiert ist seither nichts.

Bilder von verstrahlten Kindern und den Aufräumungsarbeiten bildeten den Rahmen des Films. Wir haben sie schon oft gesehen, obwohl einige davon noch nie gezeigt worden sind. Der Autor ist sich unserer Übersättigung mit Katastrophenbildern bewußt. Trotzig hält er uns am Ende diesen Überfluß vor: „Für diejenigen, denen diese Bilder zu wenig Überzeugungskraft haben: Bis heute hat die Katastrophe von Tschernobyl die Steuerzahler international einige hundert Milliarden Dollar gekostet.“ André Rehse

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