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■ StandbildWalser auf der Müllkippe

„Das erste Literaturmagazin“, Samstag 23.15 Uhr, Südwest 3

Manchmal haben auch die hohen Herren gute Ideen: Das „Fernsehen im Südwesten“ wird 40 Jahre alt, und schon holt man die Perlen aus dem SWF-Archiv. Ob auch das allererste „Literaturmagazin“ (von insgesamt 212) eine solche war, sei dahingestellt; immerhin ist es ein Prototyp, ein (fast möchte man sagen: ergreifendes) Dokument bundesdeutschen Kulturschaffens. Literatur im Fernsehen war ja was ganz Neues damals, am 3. Januar 1971 – es ging dann auch weniger um Schreiben als um ökonomische Verflechtungen, böse Verlagspolitik, „Entfremdung“ und so fort.

Lederjacke war Pflicht: der Moderator trägt sie, und auch der Schriftstellerdarsteller muß eine haben. So kommt es, daß der Journalist Jürgen Lodemann und der Dichter Martin Walser uns im schönsten Taxifahrer- Outfit entgegentreten. Walser stampft in Gummistiefeln über eine Müllkippe am Bodensee und erklärt, die Erfahrungen seiner Romanfigur Gallistl seien die „des wirtschaftlich Abhängigen“. Süß. Mit Hilfe der Genossen werde er „die Konkurrenz- Krankheit“ aber überwinden. Lodemann, noch ganz jugendlich und bleich, stellt lauter linke Fragen; Walser aber verteidigt Proust und denkt ausnahmsweise mal gar nicht an die deutsche Einheit.

Peter Härtling wiederum, damals Verlagsleiter bei S. Fischer, sieht „das Buch“ durch die Werbeabteilungen „entheiligt“, der junge Autor werde an den Rand gedrängt. Von Klaus Wagenbach wird vermeldet, daß er keine dicken Romane verlegen wolle, das Lesen so langer Schinken halte von der politischen Arbeit ab. Diese bestürzende Nachricht wird uns von einer schnuckeligen Endzwanzigerin mit Tanzstundenfrisur dargeboten: Dagmar Berghoff. Und so schafft der historische Abstand heute das, was Lodemann damals vermutlich wollte: Aufklärung.

Denn die Sendung kam schwer experimentell daher: schräges Design, signalhafter Jazz, wild wackelnde Handkamera. Das sieht heute aus wie der Beatclub der Literaturbranche, mit allen ästhetischen Unbeholfenheiten, unmögliche Cuts, Achsensprünge, man hört jeden Tonschnitt. Und trotzdem ist das Literaturmagazin der Klassiker des Genres: es rückt den Autoren auf die Pelle, es beschreibt sie zur Kenntlichkeit, wo heute nur noch routiniert gelabert wird. Bitte nur noch Wiederholungen! Christian Gampert

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