■ Standbild: Klangkörperkultur
„Die letzten Schlachtgesänge“, Do., 23 Uhr, ARD
Der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Martin Walser, hat sich für die Auszeichnung vor allem mit einem Satz qualifiziert: „Sinnloser als Fußball ist nur noch eins: Nachdenken über Fußball.“ Das Einhorn der deutschen Literatur denkt eben nicht gern. Man hätte den Preis lieber allen Fußballfans zusprechen sollen, deren rituelle Gesänge als Teil einer in Europa längst verloren geglaubten Tradition der oral history einen höheren ästhetischen Gehalt und Witz aufweisen als jeder Walserwälzer. Eine Ästhetik, der Harold Woetzel in seiner beeindruckenden Reportage über Fußballgesänge und Stammesrituale nachspürte. Woetzel beobachtete singende deutsche und englische Fans bei der Anreise zu Spielen, und er begleitete den Musiksoziologen Reinhard Kopiez bei seinen ethnologischen Feldstudien auf den Rängen des Westfalenstadions. Kopiez ist wohl der einzige deutsche Professor, der sich in eine Fan-Kurve wagt, und es ist zum Weinen schön, wie er anschließend in seiner Universitätskutte vor dem Klavier sitzt und den Klassiker „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ nachspielt, um den Ursprung der Melodie und des Rhythmus zu ermitteln.
Das Stadion ist einer der letzten Orte, an dem heute noch gemeinsam gesungen wird, die Menschen werden zu einem Leib, der sich in archaischen Ritualen selbst lobpreist und den Gegner schmäht. Die Fans bilden eine Subkultur, die enorm schnell Ideen höchst komisch umsetzt und einen Spaß an der Regression, eine Lust am Infantilen entwickelt, die – so roh sie daherkommt – friedfertigere Signale aussendet als der Hochkultur-Schwätzer Walser. Zieht dem Walser die Hosenträger runter... Michael Ringel
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