Stammzellendebatte im Bundestag: Streit um Frischzellenkur

Der Bundestag entscheidet über die Einfuhr embryonaler Stammzellen. Ohne Fraktionszwang. Für manche geht es um Leben und Tod, andere fürchten um die Freiheit der Wissenschaft.

Arbeit an der befruchteten Eizelle: Lizenz zum Töten oder lebensrettende Forschung? Bild: ap

Der Bundestag entscheidet am Freitag, ob neue embryonale Stammzellen importiert werden dürfen. Dazu gibt es vier Gruppen - gemischt aus allen Fraktionen. Eine etwa 92-köpfige Gruppe will den Stichtag für die Einfuhr frischer Stammzellen ganz aufheben. Etwa 35 Abgeordnete wollen die Forschung an embryonalen Zellen verbieten. 184 Abgeordnete wollen den Stichtag verschieben - um frisches Zellmaterial ins Land bringen zu können. 148 wollen die bisherige Regelung beibehalten. 174 Parlamentarier sind unentschlossen. Und einige Abgeordnete haben gleich mehrere Anträge unterschrieben.

Darum geht es also: Auf dem Bildschirm ist etwas zu sehen, was entfernt an Schimmel oder Schaum erinnert, Tausende winzige Gebilde, halb so groß wie Fingernägel. Kleine Kreise bilden sich heraus, kapseln sich ab, das alles in 200facher Vergrößerung. Es ist das Bild dessen, was ein Mikroskop auf einer handtellergroßen Petrischale zeigt.

Der Stammzellforscher Jürgen Hescheler bewegt das Schälchen unter dem Mikroskop. Worauf er gerade schaut, ist Leben, beginnendes menschliches Leben. Genauer sind es rund 10.000 embryonale Stammzellen im Labor des Kölner Instituts für Neurophysiologie. Und die große ungelöste Frage heißt: Haben diese unscheinbaren Bläschen, haben diese embryonalen Stammzellen Menschenwürde?

Das ist der Kern einer komplizierten Debatte, die derzeit in der Bundesrepublik in Politik und Gesellschaft mit Bitterkeit, Polemik und wissenschaftlicher Korinthenkackerei geführt wird. Es geht im wörtlichen Sinne um Leben und Tod. Am Freitag steht der Bundestag vor der Entscheidung, ob deutsche Wissenschaftler aus dem Ausland neue, jüngere embryonale Stammzellen beziehen und verbrauchen dürfen - manche sagen: töten dürfen.

Anhörungssaal 3.101 des Bundestags. Der Forschungsausschuss hat zu einer Anhörung zur "Änderung des Stammzellgesetzes" geladen. In dem stickigen Raum herrscht eine aufgeladene, fast aggressive Atmosphäre. Der Forscher Hans Schöler mault herum. "Ich finde es bezeichnend, dass man bis nach England gehen muss, um jemanden zu finden, der an adulten Stammzellen forscht", sagt er hinüber zu dem von der Insel angereisten Colin McGuckin, der Professor für Regenerative Medizin in Newcastle ist. Einem anderen Kollegen, ebenfalls anwesend, spricht Schöler gar ab, ein Forscher zu sein. Hans Schöler arbeitet am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster, und er ist einer aus der Fraktion der Embryonalen, das heißt: Schöler forscht an embryonalen Stammzellen. Und das ist fast gleichbedeutend damit, dass er den Adulten, den Kollegen, die an adulten Stammzellen forschen, ziemlich unverblümt klarmacht: Ihr habt doch keine Ahnung!

Die Nerven liegen blank bei den hiesigen Wissenschaftlern, die an embryonalen Stammzellen forschen. Ihr Forschungsobjekt ist mehr als umstritten. Sie forschen an und zerstören dabei befruchtete Eizellen, aus denen im Mutterleib normalerweise Menschen wachsen würden. Ihr Versprechen: Mit diesen Zellen werden wir irgendwann einmal Krankheiten heilen können. Ihr Problem: Auch nach zehn Jahren weltweiter Forschung haben sie praktisch keine Erfolge vorzuweisen. All ihre Mühen sind bisher Grundlagenforschung. Auch embryonale Stammzellforscher räumen ein, dass ihre Arbeit vielleicht erst in 10 oder 30 Jahren bei der Therapie am Menschen Erfolge haben wird. Wenn überhaupt.

Auch der Bundestag streitet. Es gibt eine offene, von allen Fraktionszwängen befreite Debatte. Und das nicht zum ersten Mal. Schon vor sechs Jahren hatten die Volksvertreter beschlossen, dass die embryonale Stammzellforschung in Deutschland erlaubt ist - aber nur, wenn sie ausschließlich Zellen benutzt, die aus dem Ausland kommen und bis zum Stichtag 1. Januar 2002 entstanden sind. Den Forschern aber reicht das nicht. Sie argumentieren, dass diese Zelllinien zu alt und inzwischen verschmutzt seien. Deshalb wollen sie, dass der Bundestag den Stichtag verschiebt: auf den 1. Mai 2007. Nur so kämen sie an neuere und angeblich bessere Zelllinien.

Über solche Argumente der "embryonalen Eleven", wie er sagt, kann Bodo Strauer in der Klinik für Kardiologie der Universität Düsseldorf bestenfalls lächeln. Er forscht an adulten Stammzellen. Sie werden, anders als embryonale Stammzellen, nicht aus befruchteten Eizellen gewonnen, sondern aus dem Knochenmark von Patienten, weshalb sie ethisch problemlos und jederzeit verfügbar sind. Und sie sind erfolgreich, erzählt der Mann, der für viele Kardiologen ein Star seiner Zunft ist.

In einem seiner OPs zeigt Strauer an einem Computer schwarz-weiße Röntgenfilme, die während jüngsten Operationen am Herzen entstanden sind: Strauer spritzt dabei, vereinfacht gesagt, mit einem Katheter adulte Stammzellen in den Teil des Herzens, der nach einem Infarkt funktionsunfähig oder geschwächt ist - und erzielt damit respektable, manchmal sogar staunenswerte Heilerfolge.

Über 500 Patienten habe er so erfolgreich behandeln können, sagt Strauer. Die embryonale Stammzellforschung dagegen, so betont er, sei bisher nur "reines Wunschdenken". Darin liegt für Strauer die Crux. Für die embryonale Grundlagenforschung werde menschliches Leben "im Labor malträtiert". Man dürfe sich mit dieser Forschung aber nicht "verzetteln", denn die adulte Variante sei viel zukunftsträchtiger.

Allerdings ist Strauer nicht nur eine Koryphäe unter Forschern, auch die katholische Kirche sieht ihn sehr gern. Es gibt Fotos, die Strauer händeschüttelnd beim Papst zeigen. Das war bei einem Weltkongress katholischer Ärzte, zu dem er als Experte geladen war - obwohl Strauer evangelisch ist. In manchen kirchlichen Kreisen gilt der Forscher aus Düsseldorf als eine Art Geheimwaffe gegen die embryonale Stammzellforschung. Strauer beweist das, was die Bischofskonferenz für gut erachtet. Eine Verschiebung des Stichtags lehnen die katholischen Bischöfe ab, sie wollen am liebsten gar keine Forschung an den embryonalen Stammzellen.

Der Streit über die embryonalen Stammzellen hat die beiden großen Kirchen in Deutschland entzweit - in den Tiefen des Bundestags ist es ähnlich. Denn hier bekämpfen sich die Abgeordneten in der Stammzellfrage mit allen sauberen und unsauberen Tricks des parlamentarischen Systems. Viele, die den Stichtag gern fallen sähen, würden die Chose am liebsten sehr schnell und geräuschlos zu Ende bringen, ihre Gegner wollen das Ganze möglichst lange in der Öffentlichkeit diskutiert sehen. Was alles so kompliziert macht: Der Fraktionszwang ist in dieser Frage aufgehoben, alle Abgeordneten können allein nach ihrem Gewissen gehen. Seit der ersten Lesung hat sich das Parlament im Wesentlichen in vier Gruppen gespalten: Eine will die Beschränkungen der Forschung an embryonalen Stammzellen ganz aufheben, eine andere den Stichtag verschieben, eine dritte den Status quo erhalten und eine vierte das völlige Ende der Forschung hierzulande. Aller Voraussicht nach wird es am Ende darum gehen, ob der Stichtag verlegt wird oder nicht - die anderen Anträge haben kaum Chancen. Die Entscheidung wird knapp.

Zurück nach Köln, zu den embryonalen Stammzellen in der Petrischale. "Einen Embryo würde ich eine befruchtete Eizelle erst dann nennen, wenn sie sich in der Gebärmutter eingenistet hat, also in gewisser Weise erstmals von der Mutter angenommen wurde und damit überleben kann", sagt Jürgen Hescheler. "Das entspricht unter anderem auch der jüdischen Auffassung und wurde bereits von Aristoteles formuliert." Klar, dass Hescheler die völlige Freigabe dieser Forschung fordert: "Ich erhalte jede Woche zwei, drei Briefe, in denen mich Patienten bitten, sie mit embryonalen Stammzellen zu therapieren - es ist erschreckend, dass diese Patienten dabei jedes Risiko auf sich nehmen würden. Sie sagen, es sei ihnen egal, was da passieren könnte, weil sie keine andere große Hoffnung mehr hätten."

Der umtriebige Forscher argumentiert wie viele seiner Kollegen: Seine Forschung sei noch nötig, um die Erfolge der adulten Forschung zu überprüfen. Und er hofft wie die meisten auf die neuesten Arbeiten des Japaners Shinya Yamanaka. Demnach scheint es möglich, adulte Stammzellen so zu reprogrammieren, dass sie wieder wie embryonale funktionieren. Solche Zellen machten die Forschung an embryonalen Stammzellen überflüssig: "Wenn diese Zellen erfolgreich sind, dann wäre ich bereit, längerfristig auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen zu verzichten." Dann bittet Hescheler seine Mitarbeiter Manoj Kumar Grubta aus Indien und Qamar Lund aus Pakistan, ihm "schlagende Zellen" zu bringen. Auf dem Bildschirm erscheint ein faseriger Klumpen von einst embryonalen Stammzellen, die sich in Herzzellen ausdifferenziert haben - und bereits rhythmisch zucken! Klar, dass embryonale Stammzellforschung fasziniert.

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