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Stadtumbau in DiyarbakırSechs Tage Räumungsfrist

Über Tausend Hauseigentümer in Diyarbakır-Sur werden enteignet. Bis zum 1. Mai sollen sie das Gebiet räumen – so hieß es in einer Minarettendurchsage.

Picknick in Alipaşa Foto: Bircan Değirmenci

“Bewohner der Wohngebiete Alipaşa und Lalebey, deren Häuser bereits durch die Verwaltung enteignet und bezahlt wurden, müssen ihre Häuser bis zum 1. Mai verlassen.“ Seit Tagen wird in Diyabakir über diese Durchsage vom 26. April 2017 diskutiert, die über Minarettenlautsprecher gesendet wurde.

Schon 2009 wurde beschlossen, dass alle Häuser in den Wohnvierteln Alipaşa und Lalebey (im Bezirk Sur), die nicht unter Denkmalschutz stehen, abgerissen werden. Das hatten die staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKİ, das Umwelt- und Stadtplanungsministerium und die Verwaltungen der Stadt Diyarbakir und des Stadtbezirks Sur im Rahmen des Stadtumbauplans entschieden.

Enteignung von 1.025 Hausbesitzern

Da einige der 850 Gebäude anteilig mehreren Eigentümern gehören, ging es um genau 1.025 Eigentümer, die enteignet werden sollten, und im Gegenzug Geld oder neue Wohnungen angeboten bekamen. Mit 588 kam es zu Einigungen. Die meisten dieser Hauseigentümer hatten ihre Häuser selbst gewohnt und sind in der Folge in TOKİ-Wohnungen gezogen.

Bircan Değirmenci

Absolventin der Kommunikationswissenschaften an der Marmara Universität. Arbeitete als Journalistin bereits für Özgür Gündem, Özgür Radyo, Star und Bianet. War Pressesprecherin der Kunst- und Kulturbeauftragten der Stadt Diyarbakır bis die Stadt Ende 2016 unter Zwangsverwaltung gestellt wurde.

Am 4. Dezember 2012 wurde dann das so genannte “Katastrophen-Gesetz“ erlassen, das den Stadtbezirk Sur als Risikogebiet erklärte, und die Vollmacht über dieses Gebiet endgültig dem Umwelt- und Stadtplanungsministerium übertrug. Dieses Ministerium wiederum klagte 2013 gegen jene Eigentümer der Wohnviertel Alipaşa und Lalebey, mit denen es zu keiner Einigung gekommen war, und bekam Recht. So steht diesen Eigentümern seither offen, den vom Ministerium gemessenen Schätzwert ihrer Häuser abzuholen.

Nur sechs Tage Räumungsfrist

Viele Hausbesitzer, die davon betroffen sind und ihre Häuser selbst bewohnen haben das angebotene Geld abgelehnt – weil es nicht annähernd reicht, um sich ein neues Haus anzuschaffen.

Doch ob sie es wollen oder nicht – ihre Häuser werden abgerissen. Die Räumungsfrist ist der 1. Mai. Und das erfahren sie erst mit sechs Tagen Vorlauf über die Moscheendurchsagen.

Die Bewohner stehen unter Schock. Einige haben am Tag nach der Durchsage die ganze Nacht nicht geschlafen, leiden unter Bluthochdruck oder geschwollen Augen, weil sie ständig weinen. Sie sagen: “Sie werden Strom und Wasser abstellen.“ Und: “Sie können mich nicht zwingen, zu gehen.“ Sie fragen: “Wir wissen gar nicht, wohin. Was sollen wir machen?“ Die Bewohner sind besorgt, und willigen den Interviews ein, mit der Bedingung nicht namentlich genannt zu werden. Schließlich hoffen sie darauf, dass sie gehört werden.

„Sollen sie doch das Wasser abstellen!“

Eine Bewohnerin fragt: “Welcher Staat zerstört die Häuser seiner Bürger? Wir haben unsere Kindheit und Jugend hier verbracht, wie können wir gehen? Wir zu siebt. Mein einer Sohn ist bei der Armee, der andere bereitet sich auf das Studium vor. Die Geschäfte meines Mannes laufen schlecht. Wir haben nicht gedacht, dass sie uns so im Regen stehen lassen werden.

Wir haben das Geld nicht angenommen, weil wir unser Haus nicht verlassen wollen. Hätten sie uns eine neue Wohnung ohne Zuzahlung angeboten, hätten wir zugesagt. Sie haben gesagt, Sur wird aussehen wie das spanische Toledo. Das soll also Toledo sein?

Sie werden mein Haus neu bauen und dann einen neuen Wert von 400.000 bis 500.000 Lira festlegen. Wie soll ich das bitteschön bezahlen? Sie nehmen uns alles weg, es reicht. Selbst wohnen sie in Palästen und Villen, und uns nehmen sie unsere Bruchbuden weg. Was ist das für eine Gerechtigkeit? Hätte doch jemand mit uns persönlich gesprochen, hätten sie sich doch unsere Situation angehört.

Ich werde nicht gehen. Sollen sie doch Strom und Wasser abstellen. Früher hatten wir auch kein fließendes Wasser. Dann trage ich es eben wieder von der Quelle hier rein!“

Neuer Kreditzwang

Eine ältere Dame im selben Raum mischt sich ein: “Wir können nichts machen, mein Kind. Wir müsen gehen. Ich habe das Geld genommen und musste nochmal extra einen Kredit von 25.000 Lira aufnehmen, um ein neues Haus in Şehitlik zu kaufen. Ich wohne dort gemeinsam mit meinen Schwiegertöchtern. Wir sind alle arm. Wir haben unsere Kinder hier großgezogen. Es wird sehr schwer sein für uns, woanders zu leben. Aber Tausenden geht es wie uns. Wir alle müssen gehen.“

Vom Dorf hierher, und jetzt weiter?

Eine wütende Frau nähert sich uns mit festem Schritt. Sie erzählt, dass sie gerade vom Landratsamt kommt. “Ich habe nicht einmal einen zuständigen Beamten sprechen dürfen!“ sagt sie aufgeregt. Sie sei hierher gezogen, nachdem ihr Dorf in der Provinz Silvan in den Neunzigerjehren geräumt wurde.

“Und wo gehe ich jetzt hin? Soll ich mir ein Zelt aufbauen? Es gibt nicht einmal mehr Parks, in denen man vorübergehend schlafen kann. Wir sind vier Familien in einem Haus. Sie haben einen Gesamtwert von 80.000 Lira geschätzt. Welches Haus kann ich denn mit 20.000 Lira kaufen?“

Sie nimmt uns mit zu sich nach Hause. Es gibt keine Küche, das Bad ist extrem sanierungsbedürftig. “Soll doch der Ministerpräsident mal kommen und hier baden. Wir sind sowieso in einer furchtbaren Situation. Aber wenigstens zahlen wir keine Miete.“

Wir kennen keinen anderen Ort“

Nachdem wir ihr Haus verlassen, rufen uns ein paar Frauen zu, die ihm Garten der keltischen Kirche sitzen. Sie laden uns zu ihrem Picknick ein, bei dem es Couscous, Salat und Ayran gibt. “In welchem Bezirk werden wir diese Ruhe, diese Harmonie finden? In welche Schule werden wir unsere Kinder schicken? Wir können uns doch nicht mal den Schulbus leisten“, sagen sie.

Eine der Frauen hat sich entschlossen, in keinem Fall ihr Haus zu verlassen: “Ich habe während der Ausgangssperren für sieben Tage mein Haus verlassen und bin wieder zurückgekehrt, als die Sperre noch galt. Ich war die einzige hier. Alle Nachbarn gaben mir ihre Schlüssel, damit ich mich um ihre Häuser kümmere.

Ich habe Bombenexplosionen gehört. Alle Fenster und Türen wurden zerstört, in den Wänden waren Einschusslöcher. Und nun sollen wir diese Häuser verlassen. Sie werden uns den Atem nehmen. Wie kann ein Mensch, der nicht mehr atmen kann, weiterleben? Ich kenne keinen Ort außer Sur. Ich kann woanders nicht leben. Wir sind überhaupt nicht darauf vorbereitet.“

Die, die bleiben dürfen, zahlen auch

Wir gehen zu einem der denkmalgeschützten Häuser im Viertel. Es gehört Melek, die erzählt, dass ihre Familie seit sieben Generationen hier wohnt. Zwar darf das Haus nicht abgerissen werden, jedoch wurde eine Sanierung angeordnet. Die Kosten dafür soll Melek tragen, wenn sie ihr Haus behalten will.

Sie sagt, dass sie beim Landratsamt war und erklärt hat, dass sie sich eine Sanierung nicht leisten kann. Doch man kam ihr nicht entgegen. “Wenn nötig, werde ich mich mit Benzin begießen und verbrennen“, erklärt sie. “Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas sage. Aber sie haben mich dazu gebracht.“

Der Bezirksbürgermeister Behzat Sular gibt derweil an, dass es keine legale Möglichkeit mehr gebe, gegen den Umbau vorzugehen. Die Bewohner seien bereits im Februar benachrichtigt worden, behauptet er, “auch mein Haus werden sie abreißen, ich kann auch nichts tun“.

Wie es aussieht, werden diese gepflasterten Straßen, auf denen heute noch Kinder spielen und Eltern über ihre Sorgen sprechen, tatsächlich schon sehr bald leerstehen.

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