■ Stadtmitte: Ausufernde Städte mit toten Kernen
Ausufernde Städte mit toten Kernen
Eigentlich wissen es inzwischen schon alle: Wenn Städte autogerecht werden, verlieren sie an Lebensqualität. Wir beobachten eine schleichende oder vorwärtsstürmende Asphaltisierung für den motorisierten Individualverkehr. Wenn das nicht alarmierend genug ist, sollte das Beispiel Amerika zum Nachdenken anregen: endlos ausufernde Städte mit toten Kernen; Verödung, Preisgabe und Abräumung ganzer Nachbarschaften; verrücktmachende Lärmpegel und ätzende Emissionen, die jede Freude am städtischen Leben verringern; Statistiken von Verkehrstoten und Schwerverletzten, die den Vietnamkrieg zum Pfadfinderausflug relativieren.
Längst haben nicht nur besonders wohlhabende amerikanische Bürger ihre Städte fluchtartig über die Suburbs hinweg verlassen, sondern auch viele große Firmen, Warenhäuser und kulturelle Einrichtungen. Typisches Warnsignal, auch für deutsche Städte: sinkende Einwohnerzahlen in der Stadt, wachsende Einwohnerzahlen im Umland. Ergebnis: »Well, Darling, jetzt wo wir ganz schnell in die Stadt hineinfahren können, gibt es keinen Grund mehr, dorthin zu wollen«. Diesen Zustand haben deutsche Planer schon vor 20 Jahren in amerikanischen Städten mit Schrecken wahrgenommen.
Genaugenommen sind amerikanische Städte keine Städte mehr, sondern suburbane Bebauungsbreie von energieverschlingender Ausdehnung. Zwischen »städtischem« Gebiet und angrenzendem Umland gibt es meist keinen Unterschied mehr. Gerade die Gebiete außerhalb städtischer Grenzen werden als Baugebiete bevorzugt, weil sie außerhalb der Steuerhoheit und Kontrolle liegen. Alles, aber absolut alles wird zu potentiellem Bauland dank der Autos und der hervorragenden Erschließung durch Schnellstraßen. Gerade von Schnellstraßen kann man natürlich nie genug haben, wenn es darum geht, durch Spekulation, durch Umwidmung von Grund und Boden große Reichtümer zusammenzuraffen. Nur darf man sich dann nicht wundern, wenn das wirklich attraktive Wohnumfeld nur weit draußen in den Villenenklaven der Reichen zu finden ist, oft genug hinter hohen Mauern und abgeschirmt durch bewaffnete Wachposten.
Aber wieso sollte Deutschland und ausgerechnet Berlin sich darum kümmern, wenn Amerikaner es vorziehen, anstelle eines Krieges die Zerstörungswut einer allmächtigen Autolobby und der Baulöwen walten zu lassen? Ist nicht im deutschen Raum alles bestens geregelt durch unabhängige, professionelle Verwaltungs- und Planungsprozesse, die systematisch Raumordnungs- bzw. Bebauungspläne im Interesse der Bürger — und nicht im Interesse der Autolobby und der Baulöwen — erstellen?
Wird hier nicht schon lange die Wichtigkeit des »Umweltverbundes« — des öffentlichen Personennahverkehrs, des Radfahrens und des Zufußgehens — erkannt und in Sonntagsreden und Leitartikeln hochgepriesen? Wissen es hier nicht doch längst alle, daß die »autogerechte Stadt« zur toten Stadt wird, daß hingegen alles getan werden muß, um Bürger zum Umsteigen aus den eigenen Autos zu bewegen, daß Umfang und Qualität des ÖPNV-Angebotes weiter erhöht werden müssen, daß gerade wegen ständig steigender Zahlen von Autos und Lastkraftwagen die Lawinen des motorisierten Verkehrs zurückgedrängt werden müssen, wenn Städte noch bewohnbar bleiben sollen? Gerade die grotesken, irreparablen Schäden, die amerikanischen Städten durch autogerechten Ausbau zugefügt wurden, können doch in Deutschland niemals passieren! ... Oder?
Ronald Wiedenhöft, Professor an der staatlichen technischen Universität von Colorado/USA, arbeitet zur Zeit in München an einem Buch über deutsche Verkehrspolitik. In der »Stadtmitte« schreiben Persönlichkeiten zu Problemen der zusammenwachsenden Hauptstadt.
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