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■ StadtmitteWie ein Bock zum Gärtner gemacht wird

Die Debatte um das Problemfeld Staatssicherheit hat Schlagseite. Von IM's findet sich fast jeden Tag etwas in den Zeitungen. Ihre Führungsoffiziere hingegen scheinen recht ungestört ihr bürgerliches Leben weiterführen zu können, ja werden sogar gern als Entlastungszeugen in Anspruch genommen, wobei ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich als Wohltäter der Menschheit darzustellen. Ihr Verantwortung für gröbste Verletzungen von Bürger- und Menschenrechten kommt kaum zur Sprache.

Nehmen wir zum Beispiel den Stasi-Oberst Wiegand, einst Leiter der für die Kirche zuständigen Hauptabteilung XX/4 des MfS. Dieser Mann hatte im Herbst 1989 eine besonders interessante Aufgabe. Ihm oblag die operative Bearbeitung der Initiativgruppe zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR. So findet sich beispielsweise ein Aktenvermerk über eine Beratung beim „Gen. Oberst Wiegand“ am 11. September 1989, deren Anlaß „Maßnahmen zur Verhinderung der Bildung von Initiativgruppen... zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei“ waren. Er war mit zuständig, IM's in die neuen Gruppierungen, auch die SDP, zu schleusen, um dort Führungspositionen zu besetzen, über Vorgänge zu informieren und wenn möglich Zweifel anzumelden, zu nörgeln, zu debattieren, Mißtrauen anzumelden, das heißt die politische Arbeit der neuen Gruppierungen zu zersetzen. Seine Abteilung war zuständig für die Bildung einer Einsatzgruppe, die die „politisch-operativen Maßnahmen“ des MfS gegen die Gründung der SDP am 7. Oktober 1989 koordinieren sollte.

Die Opfer, denen Herr Wiegand über die langen Jahre seiner Tätigkeit seine Zersetzungsmaßnahmen angedeihen ließ, könnten gewiß über manches berichten, was vielleicht dringend auch einer juristischen Aufarbeitung bedarf. Vorerst aber gibt man ihm Gelegenheit, als Biedermann, Wohltäter der Menschheit und glaubwürdiger Zeuge aufzutreten. Ich frage mich, ob die Geschmacklosigkeit und Zumutung gar nicht recht wahrgenommen wird, die darin liegt. Da wird von SPD-Seite als „glaubwürdiger“ Entlastungszeuge und Schutzschild gerade der hauptamtliche Stasi-Mann angeführt, der die Maßnahmen gegen die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR koordinierte.

Hier wird der Bock zum Gärtner gemacht. Ich weiß nicht, wie weit die politische Kultur herabgekommen sein muß, daß gewissen Leuten dabei nicht die Schamröte in den Kopf steigt. Ich meine, daß es schon lange die Zeit ist, daß diesem unwürdigen Schauspiel ein Ende gemacht wird. Den Opfern ist es schon lange nicht mehr zuzumuten. Gerade in Zeiten, in denen schwierigste wirtschaftliche und politische Verhältnisse glaubwürdige Politiker und eine glaubwürdige Politik verlangen, gehört die politische Kultur zu den kostbarsten Gütern. Wird sie mutwillig oder fahrlässig zerstört, ist in Deutschland in absehbarer Zeit alles möglich. Martin Gutzeit

Der Autor ist Gründungsmitglied der DDR-SPD und designierter Stasi-Beauftragter des Landes Berlin. In der „Stadtmitte“ schreiben Persönlichkeiten zu Problemen der zusammenwachsenden Stadt.

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