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■ StadtmitteErinnerung und Neuanfang

Mitte Dezember erhielt ich ein Schreiben von jemandem, der „nach leidensreichen Jahren aus der ehemaligen DDR freigekauft worden“ war und vor einigen Wochen „seine“ Stasi-Akten eingesehen hatte. Seine Akteneinsicht hatte er beantragt, um „mehr über diese dunkle Zeit“ in seinem Leben zu erfahren. Für ihn, so schreibt er, hat der „Ausflug in die Vergangenheit Sinn gehabt“, denn durch die Einsichtnahme hat er „das Recht erfahren, sich in seinem Leben auszukennen, vor allem, wenn mit Restriktionen dagegen gehandelt wird, ohne daß einem dafür alle Gründe bekannt sind“. Briefe wie dieser gehen mir nahe. Sie zeigen: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz erfüllt seinen Sinn.

Die über 3.000 Mitarbeiter der Behörde werden täglich mit fremden Schicksalen konfrontiert. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewußt. Bei der Akteneinsicht begegnen sie Menschen, die vom Staatssicherheitsdienst „bearbeitet“ wurden. Viele der Einsichtnehmenden wurden in ihrer Lebensgestaltung beeinträchtigt, sie klären durch die Akteneinsicht ihr eigenes Schicksal gleichsam auf. Die Einsichtnehmenden lernen ihre Bekannten und ihre Freunde, manchmal sogar ihre Familien, neu zu sehen. Die Akteneinsicht führt zu Enttäuschung, wenn sich zeigt, daß ein Bekannter IM war. Aber sie bringt auch Erleichterung, wenn jemand feststellt, daß sich ein Verdacht nicht bestätigt. Andere schützt sie in ihrem Persönlichkeitsrecht, etwa wenn gegen sie fälschlicherweise der Vorwurf erhoben wurde, für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet zu haben.

Neben der Akteneinsicht ist die Überprüfung der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und anderer Institutionen auf ehemalige Stasi-Zugehörigkeit das zweite große Arbeitsfeld der Behörde, das vom Gesetz vorgesehen ist. Über eine Million Anträge auf Überprüfung wurden bislang gestellt, allein im November waren es 117.000 neue Anträge.

Ein weiteres wichtiges Aufgabengebiet ist die Herausgabe von Justizakten und MfS-Unterlagen an Gerichte und Staatsanwaltschaften. In diesem Bereich haben unsere Mitarbeiter annähernd 12.000 Anträge erledigt.

In der nächsten Zeit wird die Abteilung „Bildung und Forschung“ der Behörde, die sich mit der Erforschung der Struktur und der Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes beschäftigt, weiter ausgebaut. Ihre Tätigkeit trifft auf ein großes Informationsbedürfnis über den Staatssicherheitsdienst in der Bevölkerung.

Dieses Interesse und die oben skizzierten Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag der Behörde belegen, daß sich das Stasi-Unterlagen-Gesetz in der Praxis bewährt hat. Seine Grundlagen wurden von der Bürgerbewegung und den Bürgerkomitees der ehemaligen DDR erstritten. Dieses Gesetz wurde in der frei gewählten Volkskammer durch ein eigenes Gesetz vorbereitet und später in der jetzigen Fassung vom gesamtdeutschen Bundestag verabschiedet. Es dient der Erinnerung ebenso wie dem Neuanfang. Wenn Teile der Öffentlichkeit die Auseinandersetzungen leid sind, die die öffentliche Debatte 1992 prägten, und nach „Konsens“ und „Schlußstrich“ rufen, so ist daran zu erinnern, daß Aufarbeitung der Vergangenheit ohne Dissens nicht funktionieren kann und daß dieser Dissens seine Zeit braucht. Es gilt, eine Krise zu akzeptieren. Ihre Abwesenheit wäre ein größeres Übel als die Turbulenzen, die sie in Teilen der Öffentlichkeit erzeugt. Wir können wählen zwischen einem faulen Frieden, der auf Dissens verzichtet und einem langwierigen, gelegentlich schmerzhaften Prozeß, an dessen Ende das steht, was wir mit Recht inneren Frieden nennen. Joachim Gauck

Der Autor ist Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ex-DDR.

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