■ Stadtmitte: Feier im Widerstreit
Wieder einmal sorgt eine vermeintliche Altlast des SED-Staates für Aufregung. Die Jugendweihe hat das Ende der DDR überlebt. Trotz vieler Anfeindungen feiern auch im Jahre 3 der deutschen Einheit mehr als 50.000 Vierzehnjährige in Ostdeutschland dieses Fest.
Christliche Politiker von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern erheben warnend und drohend ihre Stimmen. Würdenträger der beiden christlichen Großkirchen beklagen wortgewaltig die seelen- und morallose Haltung von Eltern und Jugendlichen, die noch immer nicht den rechten Pfad gesamtdeutscher Tugend gefunden hätten. Christen drohen mit Feuer und Schwert, nur weil die Realität nicht so ist, wie sie sie sich wünschen. Heilige Ignoranz und Heuchelei! Angesichts von mindestens zwölf Millionen Nicht- Christen in den neuen Bundesländern fällt auch den Kirchen nichts anderes ein als den anderen Einheitsmachern aus dem Westen: plattmachen!
Dabei wird die Jugendweihe in Deutschland seit über 100 Jahren gefeiert. Seinen Höhepunkt erlebte dieses Fest als Teil der Kultur, die die atheistische Arbeiterbewegung – Sozialdemokraten und Kommunisten – in der Zeit der Weimarer Republik entwickelte. Hunderttausende gingen zwischen 1918 und 1933 durch die Jugendweihe. Die Freidenker zählten mehr als eine halbe Million Mitglieder. Im Nationalsozialismus teilten die Freidenker-Verbände das Schicksal aller Organisationen der Arbeiterbewegung. Sie wurden verboten, ihre Mitglieder wurden verfolgt, inhaftiert und ermordet, die Jugendweihen durften nicht mehr stattfinden.
Im Frühjahr 1946 wurden in Berlin und anderen deutschen Städten wieder Jugendweihen gefeiert. In der Frühzeit der DDR aber war diese Tradition gar verboten. Erst 1955 erinnerte sich die SED der Jugendweihe: als Feier der Vierzehnjährigen, die dabei ein Gelöbnis auf den sozialistischen Staat ablegen mußten. Daß die Erfolge der Jugendweihe als Einschwörungsinstrument äußerst bescheiden waren, wissen wir allerdings nicht erst seit 1989.
Angesichts dieser Vorgeschichte gab es also durchaus Gründe für die Annahme, daß mit dem Ende der DDR auch die Jugendweihen verschwinden würden. Verglichen mit anderen Fehleinschätzungen erscheint dieser Irrtum nicht weiter bemerkenswert. Auffällig ist hingegen, daß bis heute kaum jemand zur Kenntnis nehmen will, daß die neuen Bundesländer derzeit nur dann zum christlichen Abendland deutscher Nation gezählt werden können, wenn man von der Bevölkerungsmehrheit absieht. Denn diese besteht nach wie vor darauf, unchristlich zu bleiben. Und dazu gehört offenbar auch die Jugendweihe.
Wer nun behauptet, diese Feier passe doch nicht mehr in unsere Zeit, dem ist die Dynamik entgangen, mit der sich die Weltlichkeit unserer Gesellschaft entwickelt. In Ostdeutschland sind Interessenverbände weltlicher Humanisten entstanden, seit Jahresbeginn existiert ein Humanistischer Bundesverband.Die weltlichen Humanisten bieten statt der Jugendweihe eine Jugendfeier an und treffen damit exakt die Interessen und Bewußtseinslagen vieler Jugendlicher und Eltern.
Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine weltliche Kultur in diesem Lande zu entwickeln. Hier ist der Osten heute dem Westen einen Schritt voraus. Die Zeit, in der die christlichen Religionen eine öffentliche Angelegenheit waren, die Konfessionslosigkeit und der weltliche Humanismus hingegen als Privatsache galten, ist vorbei. So betrachtet, gewinnt die Jugendweihe als Jugendfeier eine gewandelte Existenzberechtigung.
Wer meint, sich darüber aufregen zu müssen, wer glaubt, die freie Entscheidung der meisten Ostdeutschen für diese weltliche Feierform durch Drohungen verhindern zu können, der beweist lediglich, daß er mit den Herausforderungen des deutschen Einigungsprozesses einmal mehr überfordert ist. Dr. Klaus Sühl
Bundesvorsitzender des Humanistischen Verbandes Deutschlands; Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes, Landesverband Berlin.
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