■ Stadtmitte: Obdachlos: Tod auf Raten in der Achterbahn
Eben weil Obdachlosigkeit heute jeden treffen kann und Vorbeugen wohl doch besser (und billiger) ist, soll das lange diskutierte und mühevoll zusammengeflickte, vom Senat als „Berliner Modell“ gefeierte geschützte Marktsegment nun endlich Schlimmeres verhüten helfen. Tatsächlich wird das geplante jährliche Kontingent von 2.000 Sozialwohnungen gerade mal dazu taugen, daß nicht gleich alle Wohnungsnotfälle umstandslos in die Gosse poltern. Mit etwas Glück kommt zwischendurch auch mal der eine oder andere Wohnungslose bei der Wohnungsvergabe an die Reihe – einer Mehrzahl der über 20.000 Berliner Wohnungslosen bleibt derlei Luxus auch weiterhin verwehrt. Als neue Verpackung der alten Masche, sich dieses Problems zu entledigen, wird in der von Diepgen unterschriebenen Senatsmitteilung zum Thema „Wiedereingliederung von Obdachlosen“ scheinbarer Realitätssinn verkauft und zum Programm erhoben: „Zu vielschichtig sind die Ursachen der Obdachlosigkeit und zu begrenzt die Einwirkungsmöglichkeit der Sozialpolitik. (...) Auf der Straße lebende Menschen werden auch weiterhin für alle im Stadtbild sichtbar bleiben.“ (Drucksache 12/3162 vom 17. August 1993) Ein Armutszeugnis der besonderen Art: Indirekt entschuldigt der Senat sich damit schon im voraus für die zu erwartenden Kältetoten dieses Winters und spricht sich zugleich selbst frei von jeder Schuld. In ähnlichem Sinne handelt das Diakonische Werk, wenn es sinnvolle Projekte der Wohnungslosenhilfe wie sauer Bier verscherbelt, um sich übergeordneten Fragen zuzuwenden, ganz nach dem Motto: Bei mir seid Ihr an der falschen Adresse! Die Notleidenden werden von Pontius zu Pilatus und wieder zurück geschickt, und das mit Methode. Initiiert wird die alte, wohlbekannte Leier der Winternothilfe. Konkret bedeutet das: Wohnungslose werden in die Achterbahn geschickt – und tschüß! Die ausgewiesenen Wegstrecken zwischen Wärmestube und Notübernachtung, Weihnachtsfeier und Kleiderausgabestelle, Aldi und Sozialamt, ambulanter medizinischer Notversorgung und Suppenküche erfordern Kondition, gutes Schuhwerk, profunde Fahrplankenntnisse und vor allem: permanente Mobilität. Jeder ist willkommen, aber nur wenig wird geboten: fade Suppen, ein paar Socken oder Unterhosen, ab und zu ein Päckchen Tabak oder für ein paar Tage ein Bett (Variationen zum Thema: Läusepensionen), manchmal ein bißchen Ansprache oder Beratung. Wenn es ganz dick kommt, werden Bunker oder U-Bahnhöfe aufgemacht – oder auch nicht. Zum dauerhaften Verweilen lädt diese Art der Hilfe wahrlich nicht ein – und ist meistens auch nicht so gemeint. Armen Leuten bleibt in der Regel keine andere Wahl. Doch ganz umsonst ist der ganze Zauber trotzdem nicht zu haben: Wer nicht rechtzeitig kommt und gehörig drängelt, ist doppelt blamiert, bleibt außen vor und darf zusehen, wie er die Kurve kriegt: vielleicht noch irgendwo ein paar Mark erbetteln, und dann rauf auf die S-Bahn-Rutsche Richtung Erkner, um bis zum nächsten Morgen noch zwei, drei Stunden Schlaf zu erwischen. Wer unterwegs nicht beraubt, überfallen oder angefackelt wird, hat Glück gehabt und darf es am nächsten Tag noch einmal versuchen. Derart durch die Mangel gedreht und schon bald völlig auf den Hund gekommen, haben Wohnungslose kaum eine andere Chance, als ungewollt das Vorurteil zu bestätigen, sie seien letztendlich selbst schuld und hätten es nicht besser verdient. Und kommen sie schließlich auf die naheliegende Idee, sich in leerstehenden Häusern oder im Wagendorf auf Dauer häuslich einrichten zu wollen, ist das auch wieder nicht gut, weil derart kreative Ansätze von Eigeninitiative wieder einmal alles durcheinanderbringen könnten, was so schön geplant war. Geräumt und vertrieben wird unter Garantie, früher oder später, denn nur im Vorbeirauschen darf Not sichtbar werden. Winterhilfe: ein anderes Wort für einen kostensparend organisierten Kältetod auf Raten. Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Winter. Und der kommt bestimmt. Zur Vorbereitung darauf könnte es dann in einer der nächsten Senatsmitteilungen heißen: „Völlig unbekannt sind die Ursachen der Obdachlosigkeit, es bestehen deshalb keine Ansatzpunkte für Einwirkungsmöglichkeiten der Sozialpolitik (...). Das Erfrieren und Sterben von obdachlosen Menschen auf den Straßen wird deshalb auch weiterhin für alle im Stadtbild sichtbar sein.“ Und wir alle nicken völlig erstaunt, sehen uns um und stellen fest: „Ja doch, so ist das!“ Stefan Schneider
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