■ Stadtmitte: Die versuchte Quadratur des Kreises
Seit 25 Jahren gibt es in Berlin Gesamtschulen. „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt“ – könnte man mit Schiller über dieses Geburtstagskind urteilen. Keine gesellschaftliche Institution war so umstritten wie die Gesamtschule. Den Konservativen war sie ein Hort der Gleichmacherei; die Sozialdemokraten hielten sie für das Instrument zur Realisierung von Chancengleichheit in der Bildung. Flächendeckend ist sie nur in den SPD-regierten Bundesländern eingeführt worden. Aber auch dort hat sie hart gegen die Konkurrenz des Gymnasiums zu kämpfen.
Schuld an der „Abstimmung mit den Füßen“, dem Drang vieler Eltern, ihr begabtes Kind doch auf dem Gymnasium anzumelden, hatten sicher typische Fehler der Anfangsphase: sterile Betonburgen beherbergten Mammutschulen mit über 1.000 Schülern; oft wurde nur die Mittelstufe angeboten, was nach der 10. Klasse einen Schulwechsel erforderte. Von diesen Fehlern haben wohl alle Gesamtschulen heute gelernt.
Trotzdem haben sie in Berlin bis auf wenige Ausnahmen die ursprünglich gewollte Quote von einem Drittel begabter Kinder (solcher mit einer sogenannten Gymnasialempfehlung) nicht mehr erreicht. Sie haben allerdings bewirkt, daß die Hauptschule nur noch ein Schattendasein führt. Gesamtschulen sind heute im Grunde integrierte Haupt- und Realschulen, während die Gymnasien – Ironie der Geschichte! – auf dem Wege sind, durch die Integration vieler Realschüler (in Berlin rund 30 Prozent) die „Beletage“ der Gesamtschule zu werden.
Wo liegen die „Webfehler“ der Gesamtschule? In der guten Absicht, Kinder nicht zu früh nach ihrem Wissenshintergrund oder ihrer Begabung zu selektieren, versuchten die Gesamtschulen, allen vorfindbaren Lernniveaus ein gemeinsames Unterrichtsangebot zu machen. Dabei ist die Kluft, die durch die Kunst des Lehrers zu überbrücken ist, mitunter abgrundtief. Aus dieser Not machten die Gesamtschulen im Laufe ihres eigenen „Lernprozesses“ eine Tugend, indem sie den wichtigsten Fächern sogenannte Fachleistungskurse mit unterschiedlichen Lernniveaus einrichteten.
Der Aufwand an Organisation, der Bedarf an Lehrerstunden und die Unübersichtlichkeit des Systems für Eltern und Schüler waren dann allerdings die negativen „Kosten“ dieser Reform. Im Grunde haben die Gründerväter von damals den erfolg schulischen Lernens überschätzt. Die milieubedingten Defizite der Kinder und Unterschiede in der Intelligenz sind sehr viel schwerer auszugleichen, als es sich die vom Fortschrittspathos beseelten Gesamtschulpioniere damals erträumten.
Wo bleibt das Positive? Die Schüler an Gesamtschulen fühlen sich – wie zahlreiche Umfragen belegen – relativ wohl; dazu trägt sicher das fehlende Probehalbjahr, vor allem aber der oft sehr menschliche Umgang vieler Lehrer mit den Schülern bei. Unterricht war an diesem Schultyp immer mehr als das Erfüllen von fachlichen Lernzielen. Viele Lehrer nehmen an Gesamtschulen schon seit Jahren die Aufgaben wahr, die in nicht allzu ferner Zeit zum Berufsbild aller Lehrer gehören werden: Sozialberatung, psychologische Hilfestellung, Elternarbeit. In der Entfaltung schulischen Lebens, in der Ganztagsbetreuung sind die Gesamtschulen Vorreiter, von denen andere Schulformen lernen können.
Aber: Rechtfertigt diese Erfolgsbilanz eine solch komplizierte und teure Schulform? Die Gläubigen unter ihren Anhängern wird man vom Gegenteil kaum überzeugen können. Die „Realisten“ unter ihnen müßten allerdings akzeptieren, daß sie die Konkurrenz mit dem Gymnasium „verloren“ haben. Wenn in Gesamtschulen die „Belegschaft“ bis zu 90 Prozent aus Haupt- und Realschülern besteht, was hindert sie dann daran, den Spagat auf diese beiden Begabungsgruppen zu reduzieren? Das Resultat wäre dann die sächsische Mittelschule oder die thüringische Regelschule. Dort werden zwei Abschlüsse vergeben, denen zwei Ausbildungsgänge – ein mehr technisch-beruflich betonter und ein eher allgemeinbildender – entsprechen. Ein Wechsel auf das Gymnasium ist nach der 6. und der 10. Klasse möglich. Diese „abgemagerte“ Gesamtschule könnte sich – vom Konkurrenzdruck des Gymnasiums endlich befreit – auf die ihr eigenen Stärken besinnen und schülernähere Formen des Lernens und Miteinanderlebens entwickeln.
Die Gesamtschulbefürworter müßten begreifen, daß gute Schulen ohnehin nicht mehr am jeweiligen Schultypus festzumachen sind. Zu vielfältig ist die Gestalt, in der sich heute Schule präsentiert. Außerdem böte sich hier eine Denkfigur an, die dem westlichen Credo bisher allzu fremd war: Umbau West oder Let's test the East! Rainer Werner
Oberstudienrat in Berlin, 12 Jahre Gesamtschul-Erfahrung
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