Stadtgespräch aus Rio de Janeiro: Gegen Nackte, Schwarze und Schwule
Brasiliens evangelikale Rechte wird in ihrem Kulturkampf immer dreister – und immer mächtiger. Auch im Parlament.
Nein, die Mehrheit der Menschen in Rio de Janeiro will diese Ausstellung hier nicht haben!“ Bürgermeister Marcelo Crivella scheint genau zu wissen, was die rund 6 Millionen Bewohner seiner Stadt denken. Zensur sei es nicht, behauptet Crivella, der vor seiner Wahl ins Rathaus als Bischof der evangelikalen Universal-Kirche predigte.
Anfang Oktober legte er einen Werbespot auf, in dem er sein Veto gegen eine Kunstausstellung, die demnächst am Rande des Olympia-Boulevards in Hafenviertel gezeigt werden sollte, begründete: „Pädophilie, Zoophilie, als das wollen wir hier nicht haben…“
Die über 270 Bilder und Plastiken von 90 brasilianischen Künstlern werden – vorerst – in Rio nicht zu sehen sein. 40 von 70 Stadtverordneten unterschrieben einen Aufruf, in dem die Verwendung öffentlicher Gelder für einen „Angriff auf Moral, die guten Sitten und Familienwerte“ verurteilt wird.
Auch der konservative Regent der Metropole São Paulo, João Doria, der gleich nach Amtsantritt unzählige farbenfrohe Graffiti grau übertünchen ließ, macht bereits gegen die Ausstellung namens „Queermuseu“ mobil.
Hassobjekt Candomblé und schwarze Kultur
Der Streit über Kunst und Zensur, jüngstes Kapitel der Moralkehrtwende in Brasilien, begann in Porto Alegre. Nach Protesten und Drohungen in sozialen Netzwerken schloss das Kulturzentrum der Bank Santander das Queermuseu nur wenige Wochen nach Eröffnung der Ausstellung. Stein des Anstoßes war die Darstellung nackter Körper und die Verwendung religiöser Symbole.
Kunstschaffende und Intellektuelle sprachen von Missachtung der Meinungsfreiheit und verteidigten die Ausstellung als „Dialog über Diversität“. „Kaum spüren sie, wie es der LGBT-Gemeinde tagtäglich ergeht, und schon schließen sie das Queermuseu“, empört sich der Aktivist Gabriel Galli über den Rückzieher der Bank.
Anderes Hassobjekt der neuen Rechten und Evangelikalen ist die afrobrasilianische Religion des Candomblé und oft generell die schwarze Kultur. Das ist täglich im Fernsehen zu sehen, wenn evangelikale Pastoren in den beliebten TV-Predigten zum Kreuzzug für Jesus aufrufen. Im größten katholischen Land der Welt machen die Evangelikalen inzwischen rund 30 Prozent der Bevölkerung aus. In verarmten Favelas und in Gefängnissen bieten sie sich als Ausweg an.
Im Bundesparlament stellen evangelikale Politiker die größte parteiübergreifende Fraktion. Inzwischen bestimmt die BBB-Koalition – Biblia, Boi e Bala, zu Deutsch Bibel, Bulle (Großagrarier) und Blei (Waffenlobby) – die Geschicke des Landes. Es ist der reaktionärste Kongress seit Ende der Militärdiktatur 1985, der vor gut einem Jahr die Mitte-links-Präsidentin Dilma Rousseff wegen angeblicher Haushaltstricks aus dem Amt vertrieb und jetzt dem konservativen Michel Temer die Stange hält.
Immer neue konservative Gesetzesinitiativen
Um ein Korruptionsverfahren gegen den neuen Machthaber zu stoppen, verhinderte eine große Mehrheit der zumeist selbst korruptionsverdächtigten Abgeordneten die Aufhebung seiner Immunität. Gleiches werden sie wahrscheinlich Ende Oktober erneut tun, da die Generalstaatsanwaltschaft Temer inzwischen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorwirft.
Der jüngste Coup der Volksvertreten richtet sich gegen Kritik im Internet. Am Freitag letzter Woche verabschiedeten sie ein Gesetz, das Politiker ohne Einschaltung der Justiz ermächtigt, die Löschung kritischer Kommentare in sozialen Netzwerken zu verlangen.
Weniger Aufsehen erregt bislang die Verschärfung des ohnehin restriktiven Abtreibungsrechts, die derzeit in Parlamentskommissionen debattiert wird. Ziel ist ein grundsätzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen unter allen Bedingungen.
Bei jeder neuen Moralkeule gibt es einen Aufschrei unter Intellektuellen, doch breiter Protest regt sich kaum. Die Schriftstellerin Ana Maria Machado spricht von einem „Rückschritt in die Vergangenheit“. In atemberaubender Geschwindigkeit würden soziale Rechte gekappt und verfassungsmäßige Errungenschaften zurückgeschraubt.
Im September erlaubte ein Gericht sogar wieder die seit 1999 verbotene „cura gay“: Psychologen dürfen Schwulen und Lesben jetzt wieder anbieten, sie von ihrer sexuellen Orientierung zu heilen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten
Trump und Putin
Bei Anruf Frieden
80 Jahre nach der Bombardierung
Neonazidemo läuft durch Dresden
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen