piwik no script img

StadtgesprächFabian Kretschmer aus SeoulVor 100 Jahren rief Korea seine Unabhängigkeit aus: Bis heute leidet der Süden an der Gewalt der Ex-Kolonialmacht Japan

An diesem vorfrühlingshaften Freitag gibt sich die Seouler Innenstadt wie eine Fanzone nach gewonnenem Finale. Über zehntausend fahnenschwenkende Koreaner spazieren entlang der historischen Jongro-Straße. Frauen mit Dauerwellen und Wanderkleidung, verliebte Pärchen im Partnerlook, Männer in weißer Volkstracht und Hüten aus Rosshaar. Alle ziehen vorbei am Tapgol-Park, in dessen Mitte sich eine grün-rot bemalte Holzpagode erhebt.

Vor 100 Jahren, in den Nachmittagsstunden des 1. März 1919, stellte sich hier der Student Chung Jae Yong auf, um ein von 33 Intellektuellen verfasstes Dokument vorzulesen: „Wir erklären die Unabhängigkeit der koreanischen Halbinsel und die Freiheit des koreanischen Volks“, heißt es darin.

In nur wenigen Stunden sammelte sich eine Menschenmasse an, gegen die die japanischen Sicherheitskräfte zunächst machtlos waren. Über Monate wuchs die Unabhängigkeitsbewegung auf zwei Millionen Demonstranten an. Zehn Prozent der damaligen Bevölkerung Koreas forderten Unabhängigkeit.

Die Niederschlagung der Kolonial­herrschaft zählt bis heute zu den dunkelsten Kapiteln in der jüngeren Geschichte: Über 7.000 Koreaner wurden massakriert, knapp 50.000 verhaftet. Die Pariser Friedenskonferenz fand ebenfalls zu jener Zeit statt, doch die westlichen Mächte ignorierten die Volksbewegung in Asien.

„All das ist vor langer Zeit passiert, heute ist Japan ein gutes Land“, sagt der 68-jährige Rentner Jang Chun Sik. „Das Kriegsbeil muss irgendwann begraben werden. Vergeben ist wichtig.“

Doch das fällt einer Gesellschaft noch immer schwer, die niemals ihre traumatische Vergangenheit aufgearbeitet hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sie vom japanischen Kaiserreich besetzt, nach einer kurzen Unabhängigkeit von den Großmächten des Kalten Kriegs in einen kommunistischen Norden und kapitalistischen Süden geteilt. Beide Hälften wurden zudem während des Koreakriegs in Schutt und Asche gebombt.

Längst jedoch steht Südkorea als schillernder Stern am asiatischen Firmament: für seinen rasant gewonnen Wohlstand, die lebhafte Demokratie, weltweit führende Internet-Technologie und kreative Popkultur.

Und doch prägen das kollektive Unterbewusstsein tiefe, historische Wunden. „Kein Land hat so viele Widersprüche und Konflikte erlitten wie das moderne Korea“, schreibt Kim Nu-ri, Professor für deutsche Literatur an der Seouler Jungang-Universität, in der linksgerichteten Hankyoreh-Zeitung. Trotz der grausamen Geschichte sei kaum eine Nation derart an ihrer Vergangenheitsbewältigung gescheitert.

Die Amerikaner wollten während der Nachkriegszeit ein stabiles Südkorea, die Kollaborateure und unrechtmäßigen Großgrundbesitzer wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Mehr noch: Das Gros an Unternehmenseliten und konservativen Parteiführungen stammt aus Familien, die während der Kolonialzeit dabei halfen, die eigene Bevölkerung auszubeuten.

Wäre es heute an der Zeit, wieder nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu fragen? Viele linksgerichtete Koreaner meinen, ja – und zeigen auf Nachkriegsdeutschland. „Die Koreaner idealisieren zum Teil die deutsche Vergangenheitsbewältigung“, meint Sven Schwersensky, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Seoul: „Zudem verkennen sie, dass ein Teil der Japaner – die progressiven Schichten – ihre historische Schuld anerkennt.“ Gleichzeitig glaubt er: „Die aktuelle Lage wird vor allem von Japan angeheizt. Premier Shinzo Abe ist ein konservativer Kriegstreiber. Mit ihm sehe ich keine Perspektive für eine historische Versöhnung.“

Die Beziehungen der beiden Länder verschlechtern sich. Das hat vor allem mit den historischen Schuldfragen zu tun, die Südkoreas Präsident Moon Jae neu stellt. Er unterstützt die Forderungen ehemaliger Zwangsprostituierter unter der japanischen Armee sowie ehemaliger Zwangsarbeiter. Umso überraschender, dass Moon am 100-jährigen Unabhängigkeitstag versöhnliche Töne angeschlagen hat: „Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber die Zukunft gestalten. Wenn Korea und Japan Hand in Hand gehen beim Verarbeiten der Vergangenheit, wird eine Ära des Friedens näher kommen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen