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StadtgesprächBernhard Clasen aus KiewSeit Mitte Juni ist Filmemacher Senzow im Hungerstreik. Warum tut der Staat so wenig?, fragen sich Ukrainer

Es ist ein warmer Sommerabend. Fußgänger stehen vor den Schaufenstern von „Wsi swoji“ (Von uns – für uns) auf der Kiewer Einkaufsmeile Kreschtschatik, mit Bier oder Eis in der Hand, niemand hat es eilig. Ausschließlich aus ukrainischer Produktion sind alle die Kleider, Schuhe, Rucksäcke, Kopfbedeckungen und Schmuckstücke in dem Geschäft, in dessen Schaufenstern seit drei Monaten zwei große Plakate hängen.

Zwei Frauen sitzen auf einem kleinen Bänkchen, offenbar Mutter und Tochter. Nein, sie wisse nicht, wer der Mann auf dem Plakat ist, erklärt die Ältere der beiden. „Das ist ein Abgeordneter“, sagt die Jüngere. Eine Passantin mischt sich in das Gespräch ein. „So ein Quatsch. Das ist doch ein politischer Gefangener. In Russland sitzt er.“

Recht hat sie: Die Plakate zeigen den von der Krim stammenden ukrai­nischen Regisseur Oleh Senzow. Der Maidan-Aktivist Senzow war 2015 von einem russischen Gericht zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt worden, weil er auf der Krim Terroranschläge geplant haben soll. Seit dem 14. Juni befindet sich Senzow im Hungerstreik.

Seine Forderung: Freilassung aller in Russland inhaftierten ukrainischen Gewissensgefangenen. In einem Brief an seine Cousine Natalja Kaplan hatte Senzow in dieser Woche erklärt, er spüre das Ende nahen.

Wenig später spricht eine Frau namens Ljudmilla den Betrachter des Senzow-Plakats an. „Der Mann war hier auf dem Maidan. Er hungert jetzt schon fast drei Monate. Und er hat dieser Tage seinen Abschiedsbrief an seine Cousine geschrieben.“ Ljudmilla wischt sich die Tränen aus den Augen. „Ich komme selbst aus dem Donbass. Ich weiß, was Krieg ist“, sagt sie. „Aber die hier in Kiew, die haben doch gar keine Ahnung. Die wollen gar nicht wissen, was los ist.“

Nur wenige Meter von hier sei doch der Maidan, wirft ein junger Mann ein. Und da seien 2013 und 2014 Zigtausende auf die Straße gegangen. „Wieso nur geht heute niemand für Senzow auf die Straße?“, fragt er. „Ich glaube, wenn wir hier Massendemonstrationen für Senzow hätten, würde das die Welt und auch die russische Führung schon beeindrucken.“

Die Schauspielerin Anastasia Segeda, die zahlreiche Aktionen für Senzow ­organisiert hat, vermisst Entschlossenheit im Kampf für Senzow. Vor zwei Monaten habe sich Poroschenko letztmals mit Angehörigen von in Russland gefangenen Ukrainern getroffen. Dabei habe er auch versprochen, ein staatliches Organ zu schaffen, das sich für die Inhaftierten einsetzen solle. Bisher sei jedoch nichts aus seinen Versprechungen geworden. Nicht einmal einen Brief habe er an Senzow geschrieben, äußerte sich Segeda gegenüber dem Radiosender Hromadske.

Maria Tomak, Koordinatorin der „Medieninitiative Menschenrechte“, stößt ins gleiche Horn. Abgesehen von den Aktivitäten der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Denisowa, könne sie auf staatlicher Seite keinerlei Bemühungen um die Freilassung Senzows erkennen. Am Donnerstag habe das ukrainische Außenministerium wieder erklärt, dass nun mehr Druck auf Putin ausgeübt werden solle. „Man spielt hier Aktivität nur vor“, sagt Tomak. Was man nun brauche, sei ein guter Unterhändler. „Doch mir ist nicht bekannt, dass sich die Präsidialadministration auf die Suche nach so einer Person gemacht hat“, erklärt sie.

Unterdessen, so berichtet die ukrai­nische Tageszeitung Vesti, nutzen manche Senzow für PR in eigener Sache. So habe der Journalist Arkadi Babtschen­ko, der durch das Vortäuschen seiner Ermordung weltbekannt wurde, den russischen Behörden angeboten, freiwillig in Haft zu gehen, wenn diese im Gegenzug Senzow und 60 weitere ukrainische Gefangene freiließen. Auch der Abgeordnete Oleksiy Honcharenko vom Block Petro Poroschenko zeigte sich bereit, in ein russisches Gefängnis zu gehen.

Wenig optimistisch ist der Psychologe Semen Glusman. „Senzow stirbt – na und?“ schreibt er für die Novoe Vremja. Putin würde man auch jetzt schon in der zivilisierten Welt nicht die Hand reichen. „Die Politiker werden Senzows Tod schnell vergessen“, so Glusman, „bis zur nächsten Okkupation und zum nächsten Hungerstreik eines politischen Gefangenen.“

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